Glatze, Springerstiefel, Hakenkreuz-Tattoo. Der klassische Nazi ist leicht zu erkennen – könnte man meinen. Im Fall der „Reichsbürger“, einer Gruppe von Verschwörungstheoretikern mit oft rechtsradikalen Tendenzen, sieht das häufig schon weitaus schwieriger aus.
Mit dieser Problematik ist auch der 15-jährige Juri, Hauptfigur von Martin Schäubles neuem Jugendroman Sein Reich, konfrontiert. Nach jahrelanger Funkstille besucht der Stuttgarter Zehntklässler seinen Vater im Schwarzwald. Und zunächst wirkt alles relativ harmlos: Gemüse aus dem eigenen Garten, selbst geangelter Fisch zum Abendessen, Modellflugzeuge und Bogenschießen im Wald. Für Juri keine schlechten Aussichten, um aufregende Sommerferien auf dem Land zu verbringen – und seinen Vater endlich mal ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Besonders einfach gestaltet sich das allerdings nicht: Der Vater gehört nicht zu den Gesprächigsten. Und mit Kindern, sagt er, hat er’s grundsätzlich nicht so. Aber immerhin muss Juri hier weder aufräumen noch Zähne putzen noch früh ins Bett gehen. Und außerdem verbringen sie ohnehin die meiste Zeit auf dem Landhof von Achim, einem Freund seines Vaters. Dort schrauben die Männer an ominösen Ventilatoren-Maschinen herum und wechseln die Nummernschilder ihrer Autos aus, Achims Frau kocht, seine Söhne schießen im Wald auf Hasen und die Zwillinge Maggi und Martha erledigen die Hausarbeit. In die Schule muss hier niemand, unterrichtet wird von zu Hause aus. Von Videospielen scheint allerdings auch noch keiner was gehört zu haben, von Netflix ganz zu schweigen. Ein bisschen eigenartig kommen sie Juri schon vor, diese „Waldis“ – aber irgendwie auch ganz nett.
Krude Mischung
Außerdem gibt es ja auch noch die coole Clique vom See: Jessy mit den schönen Sommersprossen, Aschenbecher, ihren rauchenden Freund, und Jule, Jessys ältere Schwester. Die wiederum scheinen nicht allzu begeistert von Juris Vater und den „Waldis“ zu sein: „Die Nazis“ nennen sie sie, oder besser, die „Prepper“: moderne Jäger und Sammler quasi, die auf den großen Krieg warten, Vorräte und Medikamente bunkern.
Sein Vater ein Nazi? Das scheint Juri erst mal wenig plausibel. Aber das mit den „Preppern“ passt schon ganz gut: Im Wald hat sein Vater gemeinsam mit Karl einen Bunker ausgehoben, alles voller Konservendosen und Gasmasken. Ständig redet sein Vater von „großen Mächten“, „Chemtrails“ und Verschwörungen. Und von „illegalen Scheinverfahren“ der Polizei – deshalb macht er auch keine Post mehr auf. Und dann ist da noch die Sache mit dem Personalausweis: Den hat sein Vater abgegeben, weil die BRD eine Firma sei. Daher auch die neuen Nummernschilder für die Autos: DR steht da drauf. Deutsches Reich.
Trotzdem: Im Vergleich zu Hakenkreuzfahnen und Co scheint das alles doch relativ ungefährlich – und so konzentriert sich Juri fürs Erste auf das, was er ohnehin weitaus interessanter findet: die Mädchen. Erst ein Kuss mit Maggi – und dann auch noch einer mit Jule. In der schwirrenden Sommerhitze fliegen die Schmetterlinge in Juris Bauch Karussell. Die Schwarzwald-Ferienidylle könnte ewig so weitergehen – bis es plötzlich ernst wird. Jens, ein Freund von Juris Vater, kommt überraschend zurück aus dem Knast, verurteilt wurde er wegen eines Anschlages auf ein Asylantenheim. Und plötzlich geht es drunter und drüber.
Juri muss mit seinem Vater, Achim und Jens in den Bunker im Wald – dort wird nun tatsächlich alles für den Krieg vorbereitet. Langsam, aber sicher schwant dem jungen Juri, welche Gefahr von seinem scheinbar so harmlosen Vater und dessen Freunden ausgeht …
Für seinen Jugendroman hat Martin Schäuble mit ReichsbürgerInnen, RechtsextremistInnen und VerschwörungstheoretikerInnen gesprochen – und seine Einblicke auf kluge Art und Weise zu einer Geschichte für jugendliche Leser verarbeitet, die in ihrem Kern genau das schafft, was informationsgeladene Sachbücher oft nicht vermögen: ein Bild davon zu zeichnen, wie fließend die Grenzen zwischen ungefährlicher Spinnerei und extremistischen Tendenzen in der Realität häufig verlaufen. Die krude Mischung aus demokratiefeindlichen, ein vermeintliches „deutsches Reich“ verherrlichenden Ansichten, gepaart mit alternativen und esoterischen Tendenzen verbindet sich in der Ideologie der Reichsbürger zu einem Weltbild, das sich im traditionellen politischen Links-rechts-Schema nur schwer einordnen lässt.
Schritt für Schritt entblößt sich die Szenerie dann allerdings doch als bedenklich – und vielleicht ist es gerade der unverstellte, jugendliche Blick des 15-jährigen Juri, der das besonders eindrücklich macht: Wieso darf auf dem Hof eigentlich nie ein Mann einen Teller abräumen, die Frauen hingegen müssen ihre gesamte Zeit dem Haushalt widmen? Wieso ist Juris Vater so felsenfest überzeugt davon, dass die Flugzeuge am Himmel Kampfstoffe auf die Erde sprühen – obwohl Juri mit nur einem Klick googeln kann, dass die vermeintlichen Chemtrails schlicht Flugzeugabgase sind? Und wer sollte ernsthaft glauben, dass wir eine zweite Welt im Inneren der Erde haben – die Mondlandung hingegen erfunden ist? Für Juri klingt das eher nach Game of Thrones: „Ein riesiges Fantasyreich entsteht. Aber es ist ja trotzdem alles erfunden! So wie bei Papa.“
Gefährlich wird diese Fantasiewelt aber spätestens dann, wenn die kruden Theorien nicht mehr nur in den Köpfen ihrer Anhänger bleiben wollen. Auch deshalb ist dieses Buch so wichtig: Es pauschalisiert nicht, vereinfacht nicht, belehrt nicht. Und doch klärt es auf über eine Gruppe, die in ihrer tatsächlichen Gefahr häufig unterschätzt wird.
Sein Reich Martin Schäuble Fischer Kinder und Jugendbuch Verlag 2020, 240 S., 14 €