Ohne den Film Drei Haselnüsse für Aschenbrödel, der 1973 als Co-Produktion zwischen der Tschechoslowakei und der DDR entstand, könne man sich „sowohl in Deutschland als auch in Tschechien (aber ebenso in Norwegen) kaum die weihnachtlichen Festtage vorstellen“, schreibt der Märchenforscher Lubomír Sůva. Als deutsche Zuschauerin haben mich die ausführlichen, präzis-kritischen Bilder des feudalistisch geprägten Dorflebens erstaunt, die mir im Grimm’schen Märchen nicht aufgefallen waren und die ich für sozialistische Zutat hielt – ebenso wie das außerordentlich sportlich-emanzipierte Aschenbrödel. Nun erfahre ich, dass gerade diese Züge des Films wohl auf die literarische Vorlage zurückgehen

#252;ckgehen, die eben nicht von den Grimms stammt, sondern von Božena Němcová (1820 – 1862), der Nestorin des tschechischen Volksmärchens.Des Teufels SchwagerSůva lieferte die seit Langem überfällige Untersuchung der Beziehungen beider in der Romantik verwurzelten Sammlungen und bietet somit auch ein faszinierendes Bild der Němcová, die zweisprachig, aber in bescheidenen dörflichen Verhältnissen aufwuchs. Die Mutter war ein tschechisches Dienstmädchen, der Vater ein Adelskutscher aus Niederösterreich. Mit ungeheurer Energie bemühte sich die Hochbegabte um Bildung, gelangte zunächst durch Heirat mit einem Finanzbeamten in eine abgesicherte Position und in Kontakt mit wichtigen intellektuellen Kreisen in Prag. Und doch starb sie wieder verarmt, mit nur 42 Jahren. Hintergrund: Sie und ihr Mann hatten sich in der tschechischen Nationalbewegung während der Revolution von 1848 betätigt, Němec verlor seine Stellung. Němcová hatte vergeblich gehofft, mit ihrer schriftstellerischen Arbeit die Familie zu ernähren. Sie hinterließ unter anderem sieben Bände „Märchen“ unterschiedlicher Genres, die die moderne tschechische Literatursprache begründeten.Placeholder image-1Die Romantik wollte den vermeintlich unentfremdeten Urkern der jeweiligen Nationalkultur erforschen und wiederherstellen. Deren spärliche Überreste vermutete man in Überlieferungen des bäuerlichen Milieus. Damit sollten die durch den Stress der Moderne entstandenen Verwerfungen, darunter auch die soziale Spaltung, zurückgedrängt werden. Sie war national und kosmopolitisch zugleich. Die Romantiker gingen von „indoeuropäischen“ Wurzeln des Kulturguts aus.Allerdings war der tschechische historische Kontext weitaus dramatischer als der deutsche. Er war praktisch ein kolonialer Kontext. Seit dem Dreißigjährigen Krieg gab es keinen tschechischen Adel mehr, die Feudalität und auch die städtischen Oberschichten waren deutsch. Nur Bauern und Landarbeiter, denen keine oder nur spärlichste Bildung zuteilwurde, sprachen Tschechisch. So erklären sich die bei Němcová viel stärker als bei den Grimms herausgearbeiteten Sozialbezüge. Daher, so Sůvas Fazit, überrage ihr Werk den romantischen Horizont in Richtung Realismus. Das kosmopolitische Denken der Romantik ermöglichte, dass die Herausarbeitung des tschechischen Kulturkerns einerseits in scharfem Kampf mit der deutschen Hegemonialkultur stattfand, sich andererseits aber problemlos Motive und Methoden der Grimm-Brüder anverwandeln und mit Eigenem verbinden konnte.Am deutlichsten wird das durch die Teufelsfiguren in Němcovás Texten. Der durch gnadenlose Ausbeutung geprägte Alltag der tschechischen Dorfarmut konnte in ihren Augen schlimmer als die „Hölle“ sein. Ihr Dorf hatte den für die Romantik idealtypischen Charakter verloren, hier herrschte Unordnung. In Des Teufels Schwager empfindet es Petr, der von seiner Familie betrogen, wider Willen zum Militär gezwungen und als Deserteur von der Gesellschaft verstoßen wurde, als Befreiung, dass er sich gegen gute Bezahlung beim Teufel verdingen kann. Die Hölle bildet hier „ein strukturelles Gegenstück zur verdrehten Welt“. Es heißt bei Němcová: „Wäre Petr nicht in der Hölle gewesen, hätte er sagen können, er habe es wie im Himmel. Essen und Trinken hatte er genug und wenig Arbeit. Wenn er wollte, ging er im Garten spazieren.“Wie der Bärenhäuter und Des Teufels rußiger Bruder in den Grimm’schen Märchen heizt Petr den Kessel, in dem Sünder gekocht werden. Der ihm freundlich gesinnte Teufel zeigt ihm, dass darin auch seine böse Stiefmutter, der Dorfverwalter und sein Korporal kochen. Mit reichem Lohn kehrt Petr in die Welt zurück. Allerdings rät ihm der Teufel, sein schmutziges Aussehen beizubehalten und sich als sein Schwager auszugeben. Nachdem er mit seinem Geld einen verschuldeten Fürsten gerettet hat, gewinnt Petr trotz seines Aussehens die Liebe der jüngsten Prinzessin und wird wieder hübsch. Als neuer König führt er eine gerechte Ordnung ein.Eingebetteter MedieninhaltBei den Grimms bleiben die Vorgeschichte des sozialen Niedergangs und die seelischen Leiden des Höllenarbeiters unerwähnt. Der Teufel ist ein unheimlicher Herrscher über Leben und Tod, der die Seele des Helden kapern will. Dass in einem durch schwere Küchenarbeit schmutzigen und unansehnlichen Wesen eine kräftige und liebesfähige Seele leben kann, hat Němcovás Petr mit ihren meist weiblichen, sehr aktivistischen Figuren gemein, auch mit Aschenbrödel. Die männlichen Protagonisten sind ebenfalls psychologisch ausgearbeitete, weitaus sensiblere Charaktere als ihre Vorgänger aus den altslawischen Heldenepen. Unbeirrbare Liebe ist nicht nur der Weg zum privaten Glück, sondern auch in eine sozial versöhnte harmonische Gesellschaft. In diesem Punkt bleibe Němcová der Romantik verhaftet, meint Sůva. Unangebracht gewesen seien sozialistische Verklärungen ihrer Heldinnen und Helden als frühe proletarische Klassenkämpfer. Aber lässt sich ihre Umdeutung der Teufelsinterpretation nicht als faustische Revolutionsdialektik lesen?Wie man das auch auffasst – eine repräsentative Übersetzung der Werke dieser fesselnden Autorin ins Deutsche ist überfällig und gehört auf künftige Gabentische.Placeholder infobox-1



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Von Veritatis

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