Unterwasserterrorismus War es eine „pro-ukrainische Gruppe“? Oder hat doch Seymour Hersh mit seiner Schilderung der Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines recht? Beide Geschichten haben eines gemeinsam
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Die Pipelines wurden in 70 Meter Wassertiefe gesprengt
Nun gibt es zwei Geschichten darüber, wie und von wem die Nord-Stream-Pipeline gesprengt wurde. Seymour Hersh sieht die Übeltäter in der US-Regierung, deutsche Recherchenetzwerke zeigen nun auf eine pro-ukrainische Gruppe. Beiden Storys ist eines gemeinsam: Sie beruhen auf ungenannten Informanten. Da stellt sich die Frage nach dem Cui Bono noch mal ganz anders: Wem nützen diese Geschichten? Welches Interesse könnte dahinter stehen, die jeweils sehr geheimen Informationen an die Medien durchzustechen?
Bei Seymour Hersh kam schnell die Spekulation auf, dass seine Geschichte eine willkommene Wahlkampfhilfe für Joe Biden sein könnte. Biden, der Nord Stream immer kritisiert und vollmundig erklärt hatte, die USA würden Nord Stream 2 ein Ende bereiten,
eine willkommene Wahlkampfhilfe für Joe Biden sein könnte. Biden, der Nord Stream immer kritisiert und vollmundig erklärt hatte, die USA würden Nord Stream 2 ein Ende bereiten, wenn Russland die Ukraine überfällt. In den USA würde eine solche Geheimoperation, wie Hersh sie in bester James-Bond-Manier erzählt, gut ankommen. Ein starker Präsident, der an allen Regeln vorbei die Initiative ergreift und den Russen mal zeigt, wo der Hammer hängt. Yeah!Pro Biden? Pro Ukraine?Vielleicht ist die Geschichte wahr, vielleicht ist sie es nicht – aber meine Skepsis ist groß, denn irgendjemand aus dem Weißen Haus hat sie Hersh erzählt und der hat sie aufgeschrieben, ohne auch nur einmal die Frage zu stellen, ob er hier nicht zum nützlichen Idioten von Bidens Wahlkampfstrategen gemacht wurde.Bei der aktuellen Geschichte rund um die „pro-ukrainische Gruppe“ ist es nicht viel anders. Vielleicht ist die Geschichte wahr, vielleicht ist sie es nicht, aber auch hier ist die Frage angebracht: Wem nützt sie? Wann war eigentlich das letzte Mal, dass vorläufige und geheime Ermittlungsergebnisse der Bundesanwaltschaft an die Öffentlichkeit gelangt sind? Kommt nicht oft vor, und man muss sich doch sofort die Frage stellen, wer im Regierungs- oder Sicherheitsapparat diese Dinge mit welchem Interesse an die Medien gegeben hat?Rostock und PolenUnd warum wird eigentlich sofort mit dem Finger auf die Ukraine gezeigt? Nach den Veröffentlichungen der Recherchenetzwerke fuhr die geheimnisvolle Yacht in Rostock los, angemietet von einer polnischen Firma mit ukrainischen Besitzern. Warum titelt die Tagesschau dann „Spur führt in die Ukraine“ und spricht nicht von einer Spur nach Polen oder Rostock?Die sozialen Medien spekulieren schon eifrig. Die einen sehen in den jüngsten Berichten den Versuch, eine Gegenerzählung zu Hersh in Umlauf zu bringen, um internationale Kritik an den USA zu entschärfen. Die anderen vermuten, dass damit eine eher kritische Haltung gegenüber der Ukraine genährt werden soll, um einen Ausstieg aus den Waffenlieferungen vorzubereiten. Etwas abenteuerlich, aber kaum weniger abenteuerlich als die Vorstellung, eine Kommandogruppe könne zwar eine Pipeline in 70 Meter Wassertiefe sprengen, aber schaffe es nicht, den Küchentisch in der Yacht hinterher ordentlich abzuwischen. Na ja.Gas, Greenpeace, False FlagIch möchte nicht falsch verstanden werden: Ich habe großen Respekt vor den deutschen Recherchenetzwerken, die diese Geschichte jetzt veröffentlicht haben. Und ich weiß, dass sie immer sehr gründlich und solide arbeiten. Aber es braucht eine öffentliche und deutlich kritischere Auseinandersetzung mit der Quellenlage und den dahinterstehenden Interessen.Als interessierte Öffentlichkeit stehen wir nun vor zwei Problemen: Zum einen hilft uns bei der Suche nach den wahren Tätern die Frage nach dem Cui Bono nicht weiter – denn alle Beteiligten hätten ein Interesse daran, diese Pipeline zu sprengen. Die USA, um ihr dreckiges und teures Frackinggas dauerhaft nach Europa verkaufen zu können. Die Ukraine, um weiter an Durchleitungsgebühren für russisches Gas verdienen zu können. Russland ganz aktuell vielleicht, um Vertragsstrafen durch die Aufkündigung von Verträgen zu entgehen. Oder alle drei als „False Flag“-Operation. Oder es war eine Klimaschutz-Aktion, weil Ankleben geht da unten ja nicht. Fast alles denkbar.Von staatlichen Stellen gesichtetZum zweiten haben wir keine unabhängigen Quellen. Siebzig Meter unter dem Meeresspiegel gibt es keine zufälligen Augenzeug*innen, keine Handyvideos und auch kein Greenpeace, dass da unten mal so eben Proben nehmen könnte. Alles, was aus der dunklen Tiefe der Ostsee an die Oberfläche dringt, ist mindestens ein Dutzend Mal von staatlichen Stellen gesichtet und gefiltert worden.Deshalb befürchte ich, dass wir in diesem Fall die ganze Wahrheit wohl nie erfahren werden. Es ist Krieg, und im Krieg gehen Dutzende Geheimdienste ununterbrochen ihrer schmutzigen Arbeit nach. Und lancieren Geschichten, wahre wie falsche, je nachdem, was ihren Auftraggebern am meisten nutzen könnte. Für mich bleibt deshalb nur die klammheimliche Freude darüber, dass diese Pipeline nun endlich in Scherben liegt, als kaputtes Symbol eines fossilen Zeitalters. Und das Hoffen darauf, dass der Russland-Ukraine Krieg möglichst bald ein Ende finden möge, mit einem gerechten Frieden für die Ukraine.