Buch Der promovierte Jurist und Journalist Ronen Steinke fordert in seinem neuen Buch, das Bundesamt für Verfassungsschutz aufzulösen. Seine Argumente sind überzeugend
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Ausgabe 27/2023
Ronen Steinke will den Verfassungsschutz auflösen
Wer soziale Ungleichheit auf den Begriff bringen will, greift dafür seit dem 19. Jahrhundert gerne auf die Vokabel der „Klasse“ zurück. Sie gehört zum sozialwissenschaftlichen Standardrepertoire und war Karl Marx ebenso geläufig wie Max Weber oder Ralf Dahrendorf. Für den deutschen Inlandsgeheimdienst, sprich: Verfassungsschutz, ist der Begriff hingegen ein Indiz für vermeintliche Demokratiefeindschaft. Wer ihn in den Mund nimmt, setzt sich der Gefahr aus, entsprechend angeschwärzt zu werden. Das betrifft Einzelpersonen, politische Vereinigungen, aber auch Presseorgane.
Der linken Tageszeitung junge Welt ist genau das passiert. Der Vorwurf: Indem sie die Bundesrepublik als „Klassengesellschaft“ bezeichne, subsumiere sie Menschen unt
re sie Menschen unter bestimmte Kollektive und widerspreche damit „der Garantie der Menschenwürde“. Das ist offensichtlicher Unsinn. Die Wirkung blieb jedoch nicht aus. Es gab Schwierigkeiten mit Druckereien und eine Supermarktkette wollte das Blatt aus dem Sortiment nehmen.In Ronen Steinkes gerade erschienenem Buch Verfassungsschutz erscheint der Fall als nur eines von vielen Beispielen dafür, wie – so der Untertitel – der Geheimdienst Politik macht. Dazu beobachtet er politisch Aktive, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, und brandmarkt sie nach eigenem Gutdünken öffentlich als vermeintlich verfassungsfeindlich. Außerdem setzt er Spitzel ein, die politische Gruppierungen unterwandern. Im Fall der NPD war der Einsatz von V-Leuten so massiv, dass das Verbotsverfahren daran scheiterte. Man konnte kaum noch feststellen, wer überhaupt noch aus eigenem Antrieb an den Vorstandssitzungen der rechtsextremen Partei teilnahm.Überwachung durch den Verfassungsschutz kann jeden treffenEs geht darum, bestimmte politische Strömungen zu schwächen und potenzielle Bündnispartner abzuschrecken. Der Verfassungsschutz führt allen anderen Menschen vor Augen, dass sie sich von den betreffenden Gruppen lieber fernhalten sollten, um nicht selbst ins Visier der Überwachung geraten zu wollen. Organisationen, die der Verfassungsschutz beobachtet, werden in der Regel nicht mehr als gemeinnützig anerkannt und verlieren damit alle steuerlichen Privilegien. Dieses Vorgehen ist, so der promovierte Jurist und langjährige Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung, „undemokratisch, damit sollte man aufhören.“ Und zwar ganz gleich, ob einem die Meinung derjenigen, die das Ziel geheimdienstlicher Maßnahmen geworden sind, nun politisch in den Kram passt oder nicht.Im Prinzip kann es jeden und jede treffen, der oder die sich ein Stück weit aus dem politischen Mainstream herauswagt und dabei mit legalen Mitteln vom politischen Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch macht: „Klima-Aktivisten“ genauso wie „Klima-Skeptiker“, Pazifisten, Anhänger des gewaltfreien Anarchismus und Kommunisten, Islamisten, die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“, Linken-Politiker und seit 2021 auch Corona-Protestler und „Querdenker“. Ihnen wird vorgeworfen, den Staat zu „delegitimieren“.Dabei ist die Frage, wer als „verfassungsfeindlich“ gilt, unter den Angehörigen des Bundes- und der Landesämter seit jeher immer wieder auch umstritten und wird im Zweifelsfall in Absprache mit der jeweiligen Bundes- oder Landesregierung bestimmt. Das ist hochproblematisch. „Es höhlt die politischen Grundrechte – Meinungs-, Versammlungs-, Wahlfreiheit – aus, wenn es der Regierung je nach politisch-inhaltlichem Gusto möglich ist, mit Überwachung und Ausgrenzung zu agieren.“ Wer auch immer an der Spitze des Bundesamtes für Verfassungsschutz steht, er ist weisungsabhängig und dadurch ein Mann der jeweiligen Regierung. Was, so Steinke, dazu führt, dass der Verfassungsschutz eher solche Oppositions- und Protestgruppen einschüchtert, „an denen die jeweilige Regierung Anstoß nimmt – während andere, für die die Regierung politisch mehr Verständnis aufbringt, eher geschont werden.“Ronen Steinke kritisiert auch, wie der Verfassungsschutz mit Rechten umgehtIn den ersten Jahrzehnten seines Bestehens fanden viele ehemalige NSDAP-Mitglieder ihr Auskommen beim Verfassungsschutz. Im Kalten Krieg richteten sich seine Aktivitäten vor allem gegen Linke. Im Zuge des „Radikalenerlasses“, der 1972 zwischen dem Bundeskanzler Willy Brandt und den Ministerpräsidenten der Länder vereinbart worden war, wurden bis in die 1980er-Jahre hinein – in Bayern sogar bis 1991 – rund 3,5 Millionen Menschen vom Verfassungsschutz routinemäßig auf ihre politische Gesinnung hin überprüft. In der Folge kam es zu 11.000 Berufsverbots- und 2200 Disziplinarverfahren. „1.265 Mal wurden Bewerbungen für den öffentlichen Dienst abgelehnt, 265 Beamtinnen und Beamten wurden entlassen.“Heute sind es vermehrt auch Rechte, die es mit dem Verfassungsschutz zu tun bekommen. Aus linker Perspektive mag man darin so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit sehen. Aber das ist zu kurz gedacht: Dass sie sich nun gegen die legalen Aktivitäten von Pegida, AfD und Co. richten, macht die Methoden des Geheimdienstes um keinen Deut besser. Steinke ist ein entschiedener Gegner der genannten rechten Gruppierungen, daran lässt er gar keinen Zweifel. Mit der Art und Weise, wie der Inlandsgeheimdienst mit ihnen verfährt, kann er sich dennoch nicht anfreunden. Allein schon die Tatsache, dass sich das Personal des Bundesamts für Verfassungsschutz innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre auf mittlerweile rund 4000 Beschäftigte verdoppelt, das zur Verfügung stehende Budget von 496,5 Millionen Euro sogar verdreifacht hat, sollte misstrauisch machen. Daneben gibt es noch 16 weitere Landesämter für Verfassungsschutz, die bundesweit Stützpunkte für mehr als 3700 weitere Agent:innen unterhalten.Öl ins Feuer gießen, um den Brand einzudämmenNeuerdings kommen zahlreiche „virtuelle Agenten“ hinzu, die sich nicht von ihrem Schreibtisch entfernen müssen, um sich im Internet auf Plattformen von rechten, linken, islamistischen und verschwörungsideologischen Netzwerken zu bewegen. „Es sind schon so viele“, schreibt Steinke, „dass sie sich bundesweit absprechen müssen, um zu verhindern, dass sie sich gegenseitig ins Visier nehmen.“ Ihnen ist es erlaubt, szenetypische Propagandadelikte zu begehen, um Mitdiskutanten aus der Reserve zu locken. Man gießt Öl ins Feuer und hofft den Brand dadurch besser eindämmen zu können – ein Vorgehen, das man mit gutem Grund verwerflich finden kann.Als ich den rechten Verleger Götz Kubitschek 2016 für mein Buch Die Angstmacher interviewte, sagte er mir: „Ich halte es für ein Grundübel, dass der Verfassungsschutz sagen darf, wen er verdächtigt. Aus meiner Sicht sollte er dort berichten, wo er tatsächlich so viel handfestes Material zusammengetragen hat, dass ein Verbot empfohlen wird. Die Äußerung des Verdachts ist ein rein politisches Instrument. Das ist nicht redlich.“ Mag Steinke mit Kubitschek ansonsten auch nichts gemein haben, darin sind sie sich ausnahmsweise einig: Der Inlandsgeheimdienst soll sich nicht politisch einmischen.Steinke geht sogar noch einen Schritt weiter und fordert seine Auflösung. Dort, wo es um das Vorgehen gegen illegale politische Aktivitäten gehe, also gegen Bombenbastler, Volksverhetzer, Neonazi-Schlägertrupps oder chinesische Hacker, solle die Arbeit als solche unbedingt weiter erledigt werden. „Aber die rechtsstaatliche Sauberkeit gebietet, dass man dies künftig unter dem Dach der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden tut (…). Und nicht, wie es heute der Fall ist, im Schatten, mit einem nebelumhüllten Geheimdienst.“Den Teil des Verfassungsschutzes, der legale politische Aktivitäten mit geheimdienstlichen Mitteln ausspioniert, will Steinke restlos aufgelöst sehen. Dem kann ich mich anschließen. Erst dann nämlich hätte die Bundesrepublik Deutschland jene Stufe ziviler Liberalität erreicht, die in anderen westlichen Demokratien längst Standard ist. Mit seiner Forderung wird sich Steinke in der Behörde, unter Regierungspolitikern und im journalistischen Kollegenkreis nicht viele Freunde machen. Ein Grund mehr, um sein Anliegen massiv zu unterstützen. Macht endlich Schluss mit dem Verfassungsschutz!