Rechtsruck Geht es um Flucht und Asyl, war die CDU nie besonders christlich. Doch inzwischen geht es ans Eingemachte: Internationales Recht wird infrage gestellt. Fachleute sehen sich bei der Verteidigung der Menschenrechte in der Defensive
Die gefährliche Überquerung des Mittelmeers dauert oft viele Tage
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Anfang Mai 1941 erhält der Leiter der US-Wohnungsbaubehörde einen Brief aus Amsterdam. “Ich bin gezwungen, mich um eine Emigration zu kümmern”, schreibt ihm ein alter Freund aus Heidelberger Studienzeiten, “und soweit ich sehen kann, sind die USA das einzige Land, in das wir gehen können.” Nathan Straus Jr. ist ein einflussreicher Mann mit besten Beziehungen zu Präsident Franklin D. Roosevelt. Der Freund bittet um seine Hilfe bei der Flucht aus den von den Nazis besetzten Niederlanden. ”Ich würde Dich nicht fragen, wenn die Umstände hier mich nicht dazu zwängen, alles Menschenmögliche zu unternehmen, um Schlimmeres zu verhindern”, schreibt er. “Wir sorgen uns vor allem um das Schicksal unserer Kinder. Un
Unser eigenes ist weniger wichtig.” Doch die USA machen dicht, Straus kann nichts tun, die Flucht kommt nie zustande. Vier Jahre später sind die Kinder, Margot und Anne Frank, tot. Asyl als Glückssache? So funktioniert das nichtDie Welt hat seitdem dazugelernt: Asyl als Glückssache, als Gefälligkeit eines mildtätigen Staates, so kann es nicht funktionieren. Schutz vor Krieg und Verfolgung muss ein Anspruch sein, klar definiert, geregelt, einklagbar. 1951 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen das “Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge”, besser bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention. Im deutschen Grundgesetz hieß es da schon seit zwei Jahren: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Damals, im Gegensatz zu heute, noch ohne Wenn und Aber. Wer ein Grundrecht abschaffen will, muss normalerweise einigen Argumentationsaufwand betreiben. Der Weg zur Verfassungsfeindlichkeit ist schließlich nicht weit. Der CDU in Gestalt ihres parlamentarischen Geschäftsführers Thorsten Frei genügten fünftausend Zeichen. “Aus dem Individualrecht auf Asyl muss eine Institutsgarantie werden”, schreibt der Christdemokrat in einem knappen Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen. Will heißen: “Eine Antragstellung auf europäischem Boden wäre nicht länger möglich, der Bezug von Sozialleistungen und Arbeitsmöglichkeiten umfassend ausgeschlossen.” Stattdessen: abzählen und begrenzen. “Ein jährliches Kontingent von 300.000 oder 400.000 Schutzbedürftigen” will Frei direkt aus den Herkunftsländern aufnehmen und verteilen. “Die Voraussetzung für all das wäre, dass Europa sein Asylrecht nicht länger nach seiner Gesinnung, sondern nach seinen Konsequenzen beurteilt”, sinniert er zum Abschluss. “Auf diesem Weg gibt es enorme politische Hürden.”Auch konservative Migrationsrechtler lehnen die CDU-Idee abDie gibt es durchaus. Der Vorschlag sei “brandgefährlich und geschichtsvergessen”, kritisierte etwa die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan (SPD). Der Rat für Migration, ein Zusammenschluss von Migrations- und Integrationsforschern, warnte in seiner Stellungnahme vor einer “Bankrotterklärung der EU”. Das individuelle Asylrecht sei die “historische Konsequenz aus dem Scheitern von Kontingent-Lösungen”. Tatsächlich galt etwa in den USA während des Zweiten Weltkriegs eine Obergrenze von jährlich 27.000 Geflüchteten aus Deutschland und Österreich. Außerdem, so der Rat, würde der Vorschlag einen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie der Genfer Flüchtlingskonvention erfordern – schwer denkbar. Juristische Expertenstimmen, die der Tagesspiegel zusammentrug, kommen zum gleichen Ergebnis. Bemerkenswert: auch konservative Migrationsrechtler lehnen den Vorstoß ab. Einer von ihnen ist Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Konstanz. Er gehörte zu den Verteidigern der umstrittenen EU-Asylreform. Sein Problem mit Freis Vorschlag ist eher ein praktisches. „Selbst wenn man das Asylgrundrecht abschaffte: Nicht abschaffen kann man das Refoulement-Verbot. Was soll dann also mit den Menschen passieren, die nach der Asylrechtsabschaffung in Deutschland und Europa ankommen?“, zitiert ihn die Zeitung. “Dann hätte man hier Leute ohne gesicherten Rechtsstatus, die nicht arbeiten können und kaum Sozialleistungen bekommen.“ Angriffe auf das Grundrecht auf Asyl haben TraditionRefoulement-Verbot, das bedeutet, niemand darf in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm Menschenrechtsverletzungen drohen. Und das lässt sich eben nicht kontingentieren, erklärt Maximilian Pichl, Jurist und Politikwissenschaftler an der Universität Kassel. “Mittelbar würde ein individuelles Asylrecht bestehen bleiben. Der Betroffen könnte ja geltend machen, dass ihm in der Heimat Folter oder ähnliches bevorsteht, auch, wenn er wegen Überschreitung des Kontingents abgelehnt wurde. Das wäre weiterhin nur über eine Einzelfallprüfung möglich.” Und wenn man das Refoulement-Verbot gleich mit abschafft? Das ginge nur auf der Ebene der Vereinten Nationen, sagt Pichl, da müsste man direkt an der Genfer Flüchtlingskonvention feilen. “Viele Staaten des globalen Südens würden das wiederum nicht mitmachen, daher halte ich das für äußerst unwahrscheinlich.” Was also verspricht sich die CDU von einem Vorstoß, der nicht nur politisch derart kontrovers, sondern praktisch unmöglich umzusetzen ist? Tatsächlich testet der rechte Flügel der Christdemokraten nicht zum ersten Mal die Gewässer für einen Kahlschlag des Asylrechts. Schon Ende 2018 erklärte Friedrich Merz in einer Bewerbungsrede um den Parteivorsitz, wer eine EU-weit einheitliche Einwanderungspolitik wolle, müsse bereit sein, “über dieses Asyl-Grundrecht offen zu reden” – gemeint ist Artikel 16a des Grundgesetzes. Der stehe einer gemeinsamen europäischen Lösung im Weg. Das mag zwar Fantasy-Jura sein, die Debatte war dennoch eröffnet. Für Friedrich Merz läuft es ganz nach PlanWenig überraschend also, dass Merz sich jetzt auch hinter Thorsten Frei stellt und mit der statistisch zweifelhaften Einlassung, das Asylrecht werde “hunderttausendfach missbraucht”, noch Öl ins Feuer gießt. Es läuft ganz nach Plan für den CDU-Chef. Erst im Frühjahr hatte Jens Spahn, aktuell Vizevorsitzender der Bundestagsfraktion, in einer ZDF-Talkshow Linientreue bewiesen. “Vielleicht müssen wir tatsächlich mal darüber nachdenken”, so der ehemalige Bundesgesundheitsminister, “ob die Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention so noch funktionieren.” Kontingente fände er sinnvoller. Dazu schlägt er eine Art schwarze Pädagogik gegen Fluchtbewegungen vor: aus dem Mittelmeer gerettete Menschen müssten “zu der Küste, woher sie kommen” zurückgeschleppt werden. “Das machen Sie konsequent zwei, drei, vier, fünf Wochen. Dann ist die Botschaft klar: Dieser Weg funktioniert nicht.” Politikwissenschaftler nennen das “radikalisierten Konservatismus” oder auch “verrohte Bürgerlichkeit”, erklärt Maximilian Pichl von der Universität Kassel. Bezogen auf das Asylrecht ist das Phänomen für ihn die Begleiterscheinung einer europaweiten rechten Offensive. “Seit über dreißig Jahren zielt das europäische Asylsystem eher darauf ab, Menschen den Zugang zum Territorium und zum rechtsstaatlichen Verfahren zu verwehren, als ihn zu ermöglichen.” Bisher sei das eher über praktische Hürden erreicht worden, etwa Pushbacks. “Inzwischen haben Rechte erkannt: wenn sie sich abschotten wollen, müssen sie an Institutionen und Rechtsnormen ran.” Zu diesen Institutionen gehöre etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. “Es wird immer wieder eine Schwächung des Gerichtshofs in Migrationsfragen ins Spiel gebracht. Großbritannien versucht auf allen Ebenen Entscheidungen des Gerichtshofs zu umgehen. Zu dieser Strategie gehört außerdem die Kriminalisierung von Menschen, die Geflüchteten helfen, etwa in der Seenotrettung oder als Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte.” Teile der CDU würden sich seit Längerem in diese Richtung bewegen – und damit in vielen europäischen Ländern, auch jenen mit sozialdemokratischer Tradition etwa in Skandinavien, offene Türen einrennen. Die EU will zu einer Quotenregelung übergehenAuf der Gesetzesebene bereitet die Europäische Union derweil eine Verordnung vor, die die Anwendung sogenannter Grenzverfahren erheblich ausweitet. “Vereinfacht gesagt bedeuten Grenzverfahren: weg vom Einzelfall, hin zu einer Beurteilung anhand der Anerkennungsquote des Herkunftslandes”, erklärt Dana Schmalz, Referentin am Max-Planck-Institut für Völkerrecht. Bisher sind die beschleunigten Verfahren ab einer solchen Quote von 20 Prozent oder weniger vorgesehen. Im Krisenfall sollen laut der neuen Verordnung Menschen aus Ländern bis zu einer Anerkennungsquote von 75 Prozent ins Grenzverfahren fallen – “also praktisch alle”, meint Dana Schmalz. Damit diese Menschen in Grenznähe bleiben, sei damit zu rechnen, dass sie unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden. “Praktisch ergeben sich dabei vor allem Probleme im Rechtsschutz und bei der Dauer dieser Haft”, sagt Schmalz. Und: was ein Krisenfall ist, der die Verordnung aktiviert, sollen die Mitgliedsstaaten weitestgehend selbst bestimmen. “Damit wird es für Schutzsuchende völlig unvorhersehbar, welches Verfahren ihnen bevorsteht. Das ist rechtsstaatlich schon problematisch.” Dabei seien schon die Ausgangsbedingungen nicht besonders rosig gewesen. “Bis 2015 befanden wir uns als Fachöffentlichkeit meist eher in einer kritisierenden Position. Das hat sich geändert, mittlerweile ist man eher damit beschäftigt, das Bestehende zu verteidigen.” Ähnlich wie Maximilian Pichl beobachtet sie eine Verrohung. “Die Debatte hat sich weit davon entfernt, was juristisch gilt und was reformtechnisch überhaupt machbar ist. Der Konsens hat sich klar verschoben. Mit der Idee eines Anspruchs auf ein individuelles Verfahren befindet man sich inzwischen in der Defensive.”