DDR Im April 1981 stirbt der 23-jährige Matthias Domaschk im Stasi-Gewahrsam. Sein Fall und die Frage, welche Rolle das MfS dabei spielte, bewegt bis heute. Spannend, mitunter reißerisch rekonstruiert Peter Wensierski ihn in „Jena-Paradies“


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Ausgabe 33/2023

Ehrliche Behördenbeschriftung: Ein Fenster der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, Februar 1990

Ehrliche Behördenbeschriftung: Ein Fenster der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg, Februar 1990

Am Abend des 10. April 1981 steigen Peter Rösch und Matthias Domaschk in Jena in den Schnellzug D506 nach Berlin-Ostbahnhof. Dort kommen sie aber nie an. Der Zug wird außerplanmäßig in Jüterbog gestoppt. Mehrere Transportpolizisten steigen ein, filzen den Zug und stellen sich vor den beiden Männern auf. Auf die Frage, ob sie die gesuchten Personen seien, zücken Blase und Matz alias Peter Rösch und Matthias Domaschk bestätigend ihre Ausweise. „Da brauchen sie sich nicht mehr ausweisen, Jacke anziehen und mitkommen!“, blafft einer der Polizisten.

Die jungen Männer klauben irritiert ihre Siebensachen zusammen und werden durch den vollen Zug abgeführt. „Im Waggon ist es mucksmäuschenstill. Kennt man doch. Die Trapo gr

e Trapo greift sich mal wieder zwei langhaarige Kunden. Wer weiß, was die ausgefressen haben“, so beschreibt Peter Wensierski in Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk die Situation. Keine 48 Stunden später wird der 23-jährige Matthias Domaschk in einer Zelle der Stasi-Zentrale in Gera erhängt aufgefunden. Zuvor war er stundenlang von Stasi-Mitarbeitern verhört worden.Was genau in dieser Zeit geschah, welche Methoden die Stasi angewandt und was ihre Mitarbeiter brüllten und (ein)flüsterten, hat Spiegel-Journalist Wensierski in seinem packenden Buch mithilfe zahlreicher Zeitzeugeninterviews und Unterlagen rekonstruiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie es überhaupt kam, dass Menschen wie Matthias Domaschk der DDR ein Dorn im Auge waren. So erfahren wir nicht nur, wie die beiden Freunde aus der christlich-alternativen Szene Jenas von Jüterbog nach Gera kamen und mit welchen Absichten sie dort verhört wurden, sondern lesen auch von den Ereignissen und Dynamiken hinter den Kulissen.Matthias Domaschk war unangepasst, galt der Stasi als „Konterrevolutionär“Dabei legt der Autor das paranoide Räderwerk detailliert frei. Denn der 10. Parteitag der SED, der in Berlin gefeiert wurde, spielt für den Fall Domaschk eine zentrale Rolle. Stasi-Chef Erich Mielke fürchtete Stör- und Protestaktionen von „dekadent aussehenden, langhaarigen Paradiesvögeln“, weshalb er seine Sicherheitsdienste in Alarmbereitschaft versetzte. Über 8.000 Bürger:innen erhielten Berlin-Verbot. Domaschk wurde vergessen, sein Ausflug nach Berlin wurde ihm im Überwachungsstaat DDR zum Verhängnis.Matthias Domaschk war in der autoritären DDR-Gesellschaft ein unangepasster Grenzgänger. In Rückblicken erfährt man, wie er abseits des Systems ein erfülltes und ehrliches Leben suchte. Der junge Vater lebte in offenen Wohngruppen, spielte in einer Band, trampte nach Polen und in die Tschechoslowakei. Das reichte, um im alles kontrollierenden Obrigkeitssystem als „Konterrevolutionär“ und „staatsfeindliches Subjekt“ in Verdacht zu geraten.Außerdem engagierte er sich in der Jungen Gemeinde Jena, agierte im Umfeld von Bürgerrechtlern wie Robert Havemann, Wolf Biermann oder Lutz Rathenow und stand mit Aktivisten in Westberlin und Polen in Kontakt. Für die Stasi war er die ideale Zielperson, um die politische Opposition zu unterwandern. Wensierski zeigt, wie man ihn in den stundenlangen Verhören in die Ecke trieb, um ihn anschließend als IM verpflichten zu wollen.Die Leute blieben still, wenn jemand verhaftet wurdeDie Historikerin Katja Hoyer schreibt in Diesseits der Mauer, dass die DDR mehr war als Mauer und Stasi und fordert, den Alltag der einfachen Leute vom Überwachungsstaat zu trennen. Wensierskis Buch beweist, dass das Unsinn ist. Ob Schule, Betrieb oder Hausgemeinschaft, Mielkes „VEB Horch und Guck“ war überall. Das Leben in der DDR beschreibt der langjährige DDR-Korrespondent Wensierski als „Eiertanz zwischen Anpassung und innerem Dagegen-Sein, dank dem das System letztlich auch funktionierte.“ Deshalb blieben die Leute auch mucksmäuschenstill, wenn andere von der Schule geschmissen, vor die Tür gesetzt oder im Zug verhaftet wurden. „Wer weiß, was die ausgefressen haben.“Angesichts der hohen Zustimmungswerte für die AfD im Osten muss man den Eindruck haben, dass in der ehemaligen DDR viele vergessen und verdrängt haben, was es heißt, in einem autoritären Staat zu leben. Und auch den eilfertigen Verfechter:innen der guten alten Zeit kann man dieses Buch nur dringend empfehlen, denn es führt vor Augen, was es konkret heißt, in diktatorischen Verhältnissen zu leben. Wer das wissen will, bekommt hier reichlich Anschauungsmaterial.Thomas Brasch sprach 1982 vom „anarchischen Anspruch auf eigene Geschichte“, den man gegen die Herrschenden durchsetzen müsse. Wensierski erfüllt nun stellvertretend für Matthias Domaschk diesen Anspruch, indem er das Bild mit den Perspektiven von Tätern, Mitwissern und Zeitzeugen anreichert. Seine geradezu filmisch geschriebene Reportage ist lebendig, packend und hautnah erzählt. Mit unbehaglicher Neugier folgt man dem rekonstruierten Stundenprotokoll, wissend, auf welchen Abgrund es zuläuft. Dabei führt die Reise nicht nur in den Kern eines repressiven Staates, sondern über fiktionale Brücken auch in die Köpfe und Herzen der handelnden Figuren. Auch vor der Gedankenwelt der Stasispitzel macht er nicht Halt, was für Angehörige von Stasi-Opfern schwer erträglich sein dürfte.Wensierski ist sich sicher, dass es kein Selbstmord warIn diesem suggestiven und unterhaltsamen Stil, Werkzeug eines guten Reporters, liegt aber auch die größte Schwierigkeit dieses Buches. Das Thema ist zu delikat, um daraus eine reißerische Story zu machen. Dazu kommt, dass Wensierski zwar Quellen zu haben scheint, diese jedoch nicht konkret angibt, wodurch der Unterschied zwischen dem historisch Gesicherten und dem von ihm Erdichteten verschwimmt. Den Ansprüchen seriöser Historiker:innen genügt das Buch deshalb nicht.Bis heute ist die Rolle der Stasi an Domaschks Tod ungeklärt. Wensierski ist sich sicher, dass er keinen Selbstmord beging. „Er wurde in den Tod getrieben, und viele waren beteiligt“, schreibt er. Sicher ist, der Untergrund in Jena blieb eine wichtige Keimzelle der Demokratiebewegung in der DDR. Ihre Bedeutung dürfte vielen erst mit diesem Buch ins Bewusstsein rücken.



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Von Veritatis

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