Chemnitz In eineinhalb Jahren wird die Region europäische Kulturhauptstadt. Ist man hier bereit dafür? Besuch an einem Ort, der zwischen Deindustrialisierung und verwaisten Straßenzügen weiß, was Hoffnung bedeutet
4.000 Apfelbäume wollten sie pflanzen. Immerhin ein Zehntel steht jetzt
Tina Winkel hat einen ungetrübten Optimismus, ein einnehmendes Lachen und einen Schlüsselbund der mittleren Kategorie. Wie immer passt der letzte, Tina Winkel dreht am Schloss, atmet aus, öffnet die Tür der hohen Tramgarage. Draußen streckt sich das Gelände: Schienen ziehen einen Bogen, neben einem Gebäude mit DDR-Rauputz lagern unlackierte Teile einer Straßenbahnkarosserie. Man kann meinen, dass sie vor der Wende hier abgelegt wurden. Der Optimismus von Tina Winkel: Das wird noch alles, lacht sie, da mache ich mir keine Sorgen. Hinter uns: das alte Straßenbahndepot der Stadt Chemnitz, für die Pferdebahn 1880 gebaut, öfter erweitert. Den Zustand kann man gut zusammenfassen, wenn man erwähnt, dass Winkel, Kultur- und Medienpäd
8;dagogin, geboren in Rheinland-Pfalz, einen mit Helm in der Hand begrüßte. Einweisung vor dem Rundgang, den müsse man aufsetzen, vieles bröckele, ein paar Dächer konnten sie nicht mehr retten.Sie freut sich in der großen Wagenhalle, da steht ja schon ein halbes Gerüst, es geht voran. Aus all dem hier soll der „Garagen-Campus“ werden, ein Ort für Veranstaltungen und Begegnungen für das Jahr 2025: Dann wird Chemnitz mit 38 Kommunen in der Region und dem slowenischen Nova Gorica europäische Kulturhauptstadt. Der Campus soll eine Infrastruktur etwas abseits der Innenstadt werden, die das Jahr überdauert. Tina Winkel ist zufällig dazu gekommen, schrieb das Nutzungskonzept, rutschte ins Projektmanagement. Jetzt wollen sie einen Verein gründen, der soll Struktur hineinbringen, Gelder beantragen können, ansprechbar sein. Das sei alles noch ein wenig durcheinander.Die Kulturhauptstadt-Stimmung ist in Chemnitz grade etwas mau. Man sehe so wenig, wundern sich viele, die in der Stadt mit Kunst und Kultur zu tun haben. Völlig normal, entgegnet Oberbürgermeister Sven Schulze (SPD) am Besprechungstisch im Rathaus, sie hätten einfach die Phase des Honeymoon verlassen. Projekte mit Geflüchteten fehlten, kritisieren andere. Die Kulturhauptstadt habe noch nicht verstanden, wie sie mit rechten Strukturen hier umgehen wolle.Ein offenes GeheimnisNormal, sagt auch Stefan Schmidtke in seinem Büro, er ist Geschäftsführer des Unternehmens, das „Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 GmbH“ heißt. Normal, weil nach der Euphorie der Verkündigung der Kater käme, die Mühen der Ebene, während denen wenig Sichtbares geschehe, Anträge und Projektideen bearbeitet würden. Ziemlich sichtbar war, dass das große Projekt „We Parapom!“ Ende Mai unsanft endete. Quer durch Chemnitz sollten Bewohner 4.000 Apfelbäume pflanzen. Das wollte „auch soziale Grenzen aufbrechen“. Es gab Bedenken zu Standorten und Pflegeintensität. Andererseits findet man schnell Menschen, die gerne mit angepackt hätten, aber nie wieder etwas von der Parade hörten. Zum Abbruch veröffentlichten beteiligte Künstler einen bösen Brief, das Projekt könne eine Veränderung in der durch „politischen Extremismus“ zerrissenen Stadt bewirken. Nun würde es wohl von ebendiesen „extremistischen Kräften“ eingestellt. Ein Zehntel der Bäume steht.Dann veröffentlichte ein EU-Gremium seinen zweiten Monitoring-Bericht, mahnte einen „festen und strukturierten Projektmanagement-Ansatz“ an, um „Ergebnisse und Lieferungen fristgerecht voranzutreiben“. Forderte, „die europäische Dimension während der Gestaltung, Planung und Umsetzung zu stärken“. Geburtswehen, sagt Stefan Schmidtke. Kulturhauptstadt sei ein abstrakter Prozess, an dessen Anfang ungefähr zweieinhalb Gefühlswallungen stünden: Cool, wir sind wichtig. Und dafür gibt es Geld. Die Erwartungen seien riesig, die Umsetzung schwieriger. Und ja, manche Dinge seien schlecht geplant, aber das Gros auf gutem Wege. Das eine Jahr, das mit einer Interimslösung verging, wäre er gerne früher Geschäftsführer geworden. Die zwölf Monate fehlen gerade.Kein Geheimnis: Chemnitz wurde nicht zur Kulturhauptstadt berufen, weil die Dinge prima liefen. Die Stadt ist mäßig gut zu erreichen, hier lebt die älteste Bevölkerung aller europäischen Regionen. Viele erinnern sich an den größten Arbeitgeber, die Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut, früher viertgrößter Uranproduzent der Welt, der nie gegen Weltmarktpreise konkurrieren konnte. Damals hieß die Stadt nach Karl Marx und bekam ein autogerecht sozialistisches Zentrum. Und Plattenbauten. Viele, die hier lebten, verstanden sich als Industrieelite.Dann leerten sich Rohstoff-Lagerstätten, noch zu DDR-Zeiten ging es bergab: Ab 1982 zogen 20.000 Menschen weg. Nach 1990 folgten ihnen dreimal so viele. In den letzten Jahren hat sich Chemnitz bei knapp 250.000 Einwohnern stabilisiert. Noch immer sind halbe Straßenzüge verwaist oder wirken wie löchrige Zahnreihen: Brandmauern umkränzen Brachen, blinde Fenster schauen aus Industrieruinen. Wenn man bei Oberbürgermeister Schulze nachfragt, diagnostiziert er ein Gefühl von Minderwertigkeit, das mit jedem Abriss, jedem Abwanderungsrekord gewachsen sei.Bei der Wahl zur Kulturhauptstadt spielten auch die gewalttätigen Ausschreitungen von 2018 eine Rolle, als sich konservative Einwohner mit organisierten Neonazis zusammenschlossen, als Bürgerwehren durch die Stadt patrouillierten und anpöbelten, wer ihnen fremd vorkam. Björn Höcke bejubelten.Gefühl von MinderwertigkeitZu all dem sollen Kunst und Kultur ein Gegenmittel sein. Um das besser zu verstehen, kann man Frauke Wetzel besuchen. Sie sitzt in einem imposanten Haus an der Zietenstraße, am Sonnenberg: ein altes Arbeiterviertel, noch in der DDR weitflächig leergezogen, verfallen, mit Glück nicht abgerissen. Wetzel hat ein Büro aus hellen Sperrholzplatten. Wir sitzen noch nicht, da sagt sie, dass Kunst und Kultur einen vermittelnden Charakter habe. Und eine emotionale Ebene. Die sei wichtig, mit Emotionen würde die anderen ja auch arbeiten.Schon die Antwort auf die erste Frage klärt, dass es hier um kräftige Auseinandersetzungen geht. Um eine öfter umkämpfte Zone. Künstler, die nach Migrationsgeschichte aussehen, brauchen in Chemnitz am Abend zum Schutz ein Taxi. Soweit Frauke Wetzel das sieht, fehle der Kulturhauptstadt ein konsequentes Sicherheitskonzept.Wetzel arbeitet für eine Organisation, die sich „neue unentd_ckte Narrative“ nennt, sie sagt, dass sie Projekten helfen, laut zu werden. Einer Ausstellung über den NSU, Integrations-Fußballturnieren, einem Menschenrechtsfilmfestival. Gerade haben sie den sächsischen Preis für kulturelle Bildung bekommen – für ein Stück, das sie mit dem Theater Chemnitz produzierten. Es heißt So glücklich, dass du Angst bekommst und erzählt die Geschichten Chemnitzer Frauen aus Vietnam. Ein kleiner Kampf sei es gewesen, sagt Wetzel, das Theater zu überzeugen, Titel, Informationen, Inhaltsangabe auch auf Vietnamesisch auf die Internetseite zu stellen.Wenn man sich länger mit ihr unterhält, mit Stefan Schmidtke, Oberbürgermeister Sven Schulze und anderen, die in Museen, für Kulturvereine arbeiten, erzählen alle von einer großen Gruppe in Chemnitz, vielleicht einem Drittel, das lautstark rechtspopulistisch bis rechtsradikal sei. Und einer größeren, indifferenten Menge. Um die, erklärt Frauke Wetzel, wollen sie ringen. Sie wollen organisierten Rechten Spielflächen nehmen, Zurückgelassenen Kunst vermitteln. Sie ist sich nicht sicher, ob die Kulturhauptstadt ihr Programm genauso strickt.Diskussionen über Kunst können ein schwieriges Geläuf sein. In Chemnitz sind das weniger die immer ausverkauften Konzerte von Roland Kaiser – abstraktere Arbeiten machen Ärger: Als der Bildhauer Roman Signer vor drei Jahren ein Auto im Schlossteich versenkte, waren etliche in der Stadt empört. Der Oberbürgermeister erwähnt den Vorfall bei seiner Verabschiedungsrede für den Generaldirektor der Kunstsammlungen, am Besprechungstisch im Rathaus. Er fragt rhetorisch, ist Kunst nur eine klassische Skulptur – oder doch auch der Skoda im Schlossteich? Das passt zu Dynamiken, von denen viele erzählen – zur leichten Reizbarkeit in der Stadt bei Themen, die in Kulturkämpfe abgerutscht sind, Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Migration – oder Mäßigung an der Fleischtheke. Zum Unwillen, sich auf Dinge einzulassen, die das eigene Urteil befragen, einen vielleicht überfordern.Beim Oberbürgermeister merkt man noch das Fremdeln mit dem versenkten Wagen. Nun ja, das rege Diskurse an. Wenn man nachhakt, ob in Chemnitz dazugehöre, dass das Auto recht schnell demoliert wurde, zögert Schulze. Die Wahrheit liege in der Mitte. Aus der müssten sie die Lehre ziehen, dass es ohne Kommunikation nicht gehe. Da sollten Politiker die Kulturschaffenden an die Hand nehmen. Sonst rieben die den Chemnitzern am Ende ihre Minderwertigkeitskomplexe nur unter die Nase.Wofür das „C“ im Namen stehtFrauke Wetzel erzählt, dass zugängliche Kunst hier wichtig sei. Veranstaltungen, die Tina Winkel zum Gemeinwohl zählt: eine Performance in der Wagenhalle, Theater im Club, Geschichtenerzählen im alten Friseursalon. Es gehe um Begegnungen jenseits der Codierung von Kunstinstitutionen. Wetzel hat sich auch mal in die Stadt gesetzt, Passanten zum Erzählen ermutigt, Älteren zugehört. Ihnen erklärt, dass, wenn sie ihren Enkeln helfen würden, das schon Engagement sei. Niedrigschwellig nennen sie so etwas.Gute Überleitung zum Kulturhauptstadt-Titel: „C the unseen“. Irgendwo im Übersehenen tummelt sich die stille Mitte. Einwohner, die dem rabiat lauten Drittel selten widersprechen. Die aber, wenn für die Kulturhauptstadt ein Frei-Otto-Pavillon aufgebaut werden soll, bei einer Bürgerbeteiligung ihr Veto einlegen. Meinen, damit gegen Lärm und Dreck zu stimmen. Wenn man Frauke Wetzel oder Stefan Schmidtke fragt, ob Kunst in Chemnitz oft abschrecke, sagen beide sofort: Ja.Tina Winkel lebt seit 2021 in der Stadt. Sie kann viel davon erzählen, wie wichtig Infrastrukturen seien. Räume für teure Events gebe es inzwischen, aber Orte wie die Wagenhalle fehlten. Hier sollen Künstler mit Nachbarn ins Gespräch kommen, mit denen, die fürs Straßenbahn-Museum nebenan brennen.Dafür heißt das Depot jetzt auch „Interventionsfläche“. Von denen gibt es dreißig, der Garagenkomplex ist eine der größten. Die Stadt hat sich das ausgedacht, sie ist hier zuständig. Eigentlich. Tina Winkel lacht, man braucht, bis man die richtigen Leute am Telefon hat, sie vielleicht treffen kann, Geduld. Wir stehen inzwischen in einem Nebengebäude, ausgekleidet mit Bildern von Gruppen, die schon hier waren, mit Architekturentwürfen für das Gelände. Das wird noch alles, sagt Tina Winkel. Den Schlüssel hat sie gleich stecken gelassen.