Flüssiggas Von diesem Winter an könnten Frachter mit riesigen Mengen LNG an Bord auf Rügen ankommen. Ein ehemaliger NVA-Offizier kämpft dagegen. Kann das Projekt noch zu Fall gebracht werden?


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Ausgabe 38/2023

Dieses Werk ist inspiriert vom Klimacamp, zu dem Ende Gelände jetzt im September nach Rügen lädt

Dieses Werk ist inspiriert vom Klimacamp, zu dem Ende Gelände jetzt im September nach Rügen lädt

Montage: der Freitag; Material: Imago Images, adobe stock

In einer Wassertiefe von drei Metern hält Wolfgang Frank inne, damit er einen Blick auf seinen Kompass werfen kann. Er trägt einen roten Taucheranzug und einen Gürtel mit zwei Bleigewichten. Aus dem Mundstück seiner Sauerstoffflasche steigen Luftblasen auf. Als seine Kompassnadel in die richtige Richtung zeigt, gibt Frank das Zeichen für „OK“, indem er Daumen und Zeigefingerspitze zu einem Kreis formt. Dann paddelt er mit seinen Flossen weiter, vorbei an einer Flunder, bis vor ihm in der trüben Ostsee lange, grüne Halme auftauchen. Es ist das Eingangstor zu einer Unterwasserwelt, die Wolfgang Frank am Herzen liegt: die Seegraswiese neben dem Hafen von Mukran. Sie ist etwa so groß wie 25 Fußballfelder und nimmt, wie alle Pflanzen ihre

st das Eingangstor zu einer Unterwasserwelt, die Wolfgang Frank am Herzen liegt: die Seegraswiese neben dem Hafen von Mukran. Sie ist etwa so groß wie 25 Fußballfelder und nimmt, wie alle Pflanzen ihrer Art, besonders viel CO₂ auf.Doch schon bald will die Bundesregierung wenige Meter entfernt von hier einen fossilen Energieträger an Land gehen lassen. Seitdem hat Frank, 65, einen neuen Feind. In der DDR hatte der ehemalige NVA-Offizier chilenische Freiheitskämpfer gegen Diktator Augusto Pinochet ausgebildet. Das war Mitte der 1980er-Jahre. Jetzt hat der Sporttaucher etwas anderes im Visier: das geplante LNG-Terminal auf Rügen.Seit dem Ukrainekrieg setzt die Ampel-Koalition auf Liquefied Natural Gas (LNG), um die Erdgaslieferungen aus Russland zu ersetzen. Schiffe aus den USA, Katar oder Angola bringen das verflüssigte Erdgas zu den drei schwimmenden Terminals in Wilhelmshaven (Niedersachsen), Brunsbüttel (Schleswig-Hostein) und Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern). Doch weil der Hafen von Lubmin, der ungefähr 35 Kilometer von Wolfgang Franks Seegraswiese entfernt liegt, zu klein ist, um dort LNG-Tanker anlegen zu lassen, soll stattdessen Mukran im Nordosten von Rügen als Umschlagplatz aufgebaut werden. Die Deutsche Regas will bis zu 200 Millionen Euro investieren und den Betrieb schon in diesem Winter aufnehmen. Doch der Protest dagegen ist laut.Ein Kugelstoßer hat AngstKarsten Schneider öffnet die Tür zu seinem Büro im Zentrum des Ostseebades Binz. Bis zu 70 Stunden arbeitet der Bürgermeister der 5.500-Einwohner-Gemeinde dieser Tage. Die Sache mit dem LNG mache ihm genauso viel Arbeit wie sein reguläres Amt, sagt der 59-Jährige. In einem Schrank stehen goldene Statuen, die der bullige Zwei-Meter-Mann beim Kugelstoßen gewonnen hat. Als Vorsteher eines Urlaubsparadieses werde man ständig verklagt, weil sich Grundstücksbesitzer schnell um ihr Baurecht betrogen sähen. Doch als Schneider im Januar das erste Mal vom LNG erfuhr, wurde auch er nervös. „Da sind bei mir alle Alarmglocken angegangen.“Im Vier-Tage-Rhythmus, so der Plan, sollen Frachter nur zehn Kilometer von Binz entfernt ankommen und 13,5 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas jährlich nach Rügen bringen. „Die wollen aus unserer schönen Insel eine Chemiebude machen!“, sagt Schneider. Er sorgt sich um den Tourismus. Pro Jahr besuchen etwa 1,2 Millionen Urlauber die Insel Rügen. Der Binzer Bürgermeister fürchtet, dass es bald 20 Prozent weniger sein könnten. Dabei gibt es im Nordosten der Insel die weltberühmte elf Kilometer lange Kreideküste, es gibt Naturparks, Postkartensandstrände und weidende Schafe. Von Mitte September bis Ende Oktober ist Kranichzeit.Schneider setzt sich an seinen Schreibtisch und druckt E-Mails aus, die er in den vergangenen Tagen erhalten hat. In einer beschwert sich ein Urlauber über den „permanenten Lärm“, den ein rotes Schiff machen würde, das vor Binz ankert. Gemeint ist die Coral Fraseri, ein 130 Meter langer LNG-Tanker, der das Terminal in Lubmin mit Gas versorgt und dessen Brummen man bis weit in den Ort hören soll. Was werden die Badegäste erst sagen, wenn solche Kolosse bald in den Hafen des nahe gelegenen Mukran einlaufen?Der Plan der Deutschen Regas: An einer Mole sollen zwei Schiffe stehen, auf denen das von Tankern antransportierte flüssige LNG in einen gasförmigen Zustand verwandelt („regasifiziert“) wird. Anschließend wird es über eine 50 Kilometer lange Pipeline zum Festland nach Lubmin gebracht. Genehmigt hat das zuständige Bergamt Stralsund aber bisher nur einen Teil des Projektes, nämlich die ersten 25 Kilometer der Pipeline. Im Moment werden die Rohre dafür im Greifswalder Bodden verlegt. Rechtlich gesehen wäre bei einer Leitung, die länger als 40 Kilometer ist, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgeschrieben, besonders, wenn ein ökologisch sensibler Bereich wie die Küste vor Rügen betroffen ist. Das LNG-Beschleunigungsgesetz des Bundes schreibt jedoch vor, diese Prüfung wegzulassen, sollte sich auf diese Weise „eine Krise der Gasversorgung“ abwenden lassen. Aber ist es das wert? Wird ein so großes LNG-Terminal, wie es auf Rügen geplant ist, überhaupt gebraucht für die hiesige Gasversorgung?In einem Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums vom 3. März heißt es, die Importkapazitäten von Flüssiggas dürften „nicht auf Kante genäht“ sein. Es müsse bedacht werden, dass Tschechien, die Slowakei, Österreich, die Ukraine und Moldau durch den Wegfall russischer Gaslieferungen ebenfalls auf deutsche LNG-Importinfrastruktur angewiesen sein könnten. Der Grund: Diese Länder haben keine geeignete Küste, über die sich LNG auf dem Seeweg anlanden lässt. Deswegen müsse man nicht nur auf den deutschen Flüssiggasbedarf schielen, sondern im „Geist der europäischen Solidarität“ planen.Keine Ruhe nach AfghanistanOliver Reiß wird man damit nicht überzeugen können. Am Haus des 60-Jährigen hängt ein Banner, auf dem in bunten Farben „Kein LNG auf Rügen“ steht. Es liegt gegenüber vom Hafen Mukran. Reiß trägt Glatze und einen weißen Kinnbart, auf einem Unterarm hat er sich das Motto der US-Marines tätowieren lassen: „Semper Fidelis“, darunter ein Schwert. Reiß war 35 Jahre lang Soldat bei der Bundeswehr, ab 2002 im Kampfeinsatz in Afghanistan. Zurück kam er mit einem posttraumatischen Stresssyndrom. 2018 zog er mit seiner Familie nach Rügen, um Ruhe zu finden. „Ich wollte aufs Wasser gucken“, sagt er, „und Binz war nicht bezahlbar“. Jetzt hat Reiß Angst vor dem Lärm, der bald 24 Stunden am Tag vor seiner Tür stattfinden könnte.Eine Schwierigkeit bei der Beurteilung, wie sinnvoll ein LNG-Terminal auf Rügen ist: Die Schätzungen des zukünftigen Gasbedarfs klaffen weit auseinander, sie hängen von allen möglichen Faktoren ab. Falls der Winter kalt wird, brauchen wir viel Gas. Laut Bundesnetzagentur führt bereits ein Temperaturunterschied von einem Grad zu einem Mehrverbrauch von 0,1 Milliarden Kubikmeter – pro Woche. Bürgermeister Karsten Schneider nimmt das nicht ernst. Er guckt aus seinem Fenster im sonnigen Binz: „Niemand rechnet ernsthaft damit, dass wir einen sibirischen Winter bekommen!“ Doch das Bundeswirtschaftsministerium von Robert Habeck (Grüne) will auf Nummer sicher gehen und Zusatzkapazitäten von „mindestens zehn Prozent“ schaffen. Noch vor der Sommerpause wurde, auch auf Habecks Wunsch hin, Mukran ins LNG-Beschleunigungsgesetz aufgenommen. Volker Braun, einer der wichtigsten Dramatiker Ostdeutschlands, schreibt in einem unveröffentlichten Gedicht über „die Seelenverkäufer der grünen Partei“. Ist die Ökologie auf Rügen jetzt in Gefahr?Wolfgang Frank, der ehemalige NVA-Offizier, glaubt das. Frank betreibt eigentlich eine Tauchschule im Ortsteil Prora und fährt regelmäßig 30 Meilen aufs Meer raus, um herrenlose Fischernetze aus der Ostsee zu ziehen. Seit drei Jahren hat er ein neues Hobby: Er pflanzt mit seinen eigenen Händen die Seegraswiese in der Bucht an. Von der Umweltschutzorganisation WWF hatte er erfahren, dass sich durch diese Pflanzen viel Treibhausgas binden lässt. „Und man muss ja im Kleinen anfangen“, sagt er. In den hiesigen Seegraswiesen sei nicht nur der Steinbutt zu Hause, auch Aale, Meerforellen und Dorsche würden sich darin tummeln. Der Hering würde hier sogar laichen. „Eigentlich haben wir den ganzen Fischbestand, der in der Ostsee vorkommt, auch in der Seegraswiese.“Doch werden die Pflanzen überleben, wenn der Hafen nebenan auf eine Tiefe von 16 Metern ausgebaggert wird? Das ist notwendig, damit die schwer beladenen LNG-Tanker dort einlaufen können. Frank sagt, der aufgewirbelte Boden würde sich wie ein Schleier über die Halme legen und sie ersticken. Deswegen unterschreibt er Petitionen gegen das LNG und verfolgt auf seinem alten Bürocomputer akribisch die Routen der großen Frachter.Scholz misstraut PolenWenn man beim Aufsichtsrat des Hafenbetreibers Mukran Port nachfragt, hört man einen weiteren Grund, warum das Terminal notwendig sei: Mit Ausnahme von Lubmin, das zugunsten von Rügen geschlossen wird, liegen alle deutschen Terminals in der Nordsee und versorgen das Gasnetz in Westdeutschland. Das aber ist nur sehr schwach mit dem Gasnetz in den ostdeutschen Bundesländern verbunden. Also brauche es ein Terminal extra für den Osten. Die Deutsche Umwelthilfe hält dagegen: Man solle lieber die schwachen Pipelineverbindungen zwischen Ost und West ausbauen, anstatt in Mukran ein neues Terminal zu bauen. Außerdem gebe es im polnischen Swinemünde noch ein unausgelastetes LNG-Terminal, auf dessen Kapazitäten man hätte zurückgreifen können. Genau darauf angesprochen, soll Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim Besuch auf Rügen laut einem Anwesenden gesagt haben, auf die Polen könne man sich nicht verlassen. Deshalb will die Bundesregierung Rügen unbedingt.Für den Aufsichtsrat von Mukran Port sind das gute Nachrichten. Er sieht darin eine Chance, dass die Insel zu einem Standort für grünen Wasserstoff wird. Gerade würden Gespräche mit der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern laufen. Der Plan sieht vor, dass aus den Offshore-Windparks vor der Küste Rügens Ökostrom nach Mukran kommen soll, mit dem man hier Wasserstoff produzieren und durch die neue Pipeline nach Lubmin transportieren könnte. „Wir scheißen auf fünf, sechs Jahre LNG, wenn wir dafür die Infrastruktur für grünen Wasserstoff bekommen“, sagt ein Aufsichtsratsmitglied.Doch genau das glaubt die Klimabewegung nicht: Im Gegenteil, mit dem LNG-Terminal binde man sich auf weitere Jahrzehnte an fossile Infrastruktur. Weshalb Ende Gelände für den 24. September in Rügen ein Protestcamp plant.Oliver Reiß sagt, er sei in dem Glauben hierhergezogen, gegenüber von einem idyllischen Fährhafen zu wohnen. Nachvollziehbar ist das nicht: Spätestens seit 2004 ist Mukran ein Industriegebiet. 66 Unternehmen sind hier angesiedelt, Schuttberge liegen auf dem Gelände, eine Fischverarbeitung hat hier ihren Sitz. Lange lagen auch 5.000 nutzlos gewordene Nordstream-2-Röhren herum. Oliver Reiß will trotzdem bleiben. „Das hier ist mein Zuhause“, sagt er, während er durch seinen Garten hinter dem Haus läuft. Viel Arbeit hat er in diesen Fleck Erde gesteckt. 20 Bienenvölker hält er, den Honig verschenkt er manchmal an Altenheime. Auch zwei Bungalows stehen hier, die er an Touristen vermietet. Ein Stammgast hat schon angekündigt, bald nicht mehr zu kommen. Der Grund: LNG.



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Von Veritatis

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