Ein Blick nach oben in die Baumspitzen, darüber blitzt der blaugraue Himmel hervor, während das Bild langsam weiterschwebt durch das Blättermeer, untermalt von sphärisch-elegischen Klängen. In knapp vier Minuten führt diese filmische Meditation sanft hinein in die Welt von Ryusuke Hamaguchis Evil Does Not Exist. Und endet dann abrupt, mit einem harten Schnitt, mitten im Ton. Es wird nicht die einzige Irritation bleiben im neuen Film des 45-jährigen Japaners, der vor zwei Jahren mit Drive My Car einen Oscar gewann.
Harasawa heißt im Film das fiktive Dorf in der Nähe von Tokio, doch zwischen der Metropole und der idyllischen Waldregion liegen Welten. Hier leben und arbeiten Menschen im Einklang mit sich und der Natur, sie schonen die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Das Trinkwasser stammt aus dem Bach, im Wald sammeln sie wilden Wasabi, die Abende verbringt man oft mit gemeinsamem Essen bei Nachbarn. In einem Haus am Waldrand wohnt auch der alleinerziehende Takumi (Hitoshi Omika), der sich um die Baumbestände und seine achtjährige Tochter Hana (Ryo Nishikawa) kümmert. Die Gegend, in der das Mädchen trotz des Verlusts der Mutter aufwächst, ist ein Traum.
Auch für gestresste Großstädter, denken sich die Planer eines Unternehmens namens Playmode, die hier einen Zelt- und Wohnwagenplatz aufziehen wollen. Dafür haben sie auch gleich den passenden Neologismus in ihrem Werbematerial: Glamping, glamouröses Camping. Als zwei Abgesandte das Konzept bei einer Bürgerversammlung vorstellen, gibt es schnell Fragen. Die Bewohner befürchten, dass durch die geplanten Klärtanks der Bach verschmutzt werden könnte. Durch Lagerfeuer würde das Risiko für Waldbrände steigen, Vögel und andere Wildtiere wären in Gefahr, nicht zuletzt würden lokale Ladengeschäfte durch die neue Konkurrenz starke Einbußen haben. Das aus einer Tokioter Consultingagentur engagierte Duo Takahashi (Ryuji Kosaka) und Mayuzumi (Ayaka Shibutani) ist darauf schlecht vorbereitet, die beiden flüchten sich in zunehmend floskelhafte Antworten. Hamaguchi erzählt hier kein klassisches Ökodrama mit klar verteilten Rollen von Gut und Böse, sondern schlägt weitere narrative Haken. Immer wieder blitzen im Lauf des Films Momente auf, die nicht ins Idyll passen. Der verweste Kadaver eines angeschossenen Rehkitzes, Schüsse in der Ferne, von einem Dornenbusch tropft Blut. Und irgendwann ist das kleine Mädchen verschwunden … Thomas Abeltshauser sprach mit dem Regisseur über den Reiz offener Fragen, den ungewöhnlichen Entstehungsprozess seines Films und das ökologische Bewusstsein in Japan.
der Freitag: Herr Hamaguchi, in Ihrem neuen Film stellen Sie das nachhaltige Leben auf dem Land dem Profitstreben eines Unternehmens gegenüber. Was hat Sie an dem Thema gereizt?
Ryusuke Hamaguchi: Es begann weniger mit einem Thema als mit der Komponistin Eiko Ishibashi. Sie hatte mich gefragt, ob ich für ihre Konzerte ein visuelles Konzept entwickeln würde. Zunächst wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte, also haben wir etwa ein Jahr lang Ideen ausgetauscht. Schließlich haben wir uns darauf geeinigt, in der Gegend zu drehen, in der sie lebt und die sie sehr inspiriert. Das Grenzgebiet der Präfekturen Yamanashi und Nagano, gut zwei Stunden außerhalb von Tokio. Vor allem die Natur und die Wälder dort würden gut mit ihrer Musik harmonieren, meinte sie. Ich fing an, darüber nachzudenken, wie ich in dieser Landschaft eine Geschichte erzählen könnte, um daraus einen Film zu machen.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Bei den Recherchen erfuhr ich von einem Plan, dort eine riesige Campinganlage aufzubauen, die stark in das Ökosystem der Gegend eingegriffen hätte. Die Bewohner dieser Gegend sind sehr umweltbewusst, sie leben ressourcenschonend und weitgehend im Einklang mit der Natur. Ihr Protest führte dazu, dass das undurchdachte Projekt schnell wieder begraben wurde. Ich fand das ein Thema, das viel über unsere heutige Zeit aussagt, und begann, daraus die Geschichte zu entwickeln. So entstanden zwei Projekte, der kürzere Stummfilm Gift, den wir für Eiko Ishibashis Live-Performance geschaffen haben, und der Spielfilm Evil Does Not Exist. Beide beruhen auf demselben Grundmaterial, sind aber anders geschnitten und angeordnet, haben teils unterschiedliche Einstellungen. Auch wenn die Geschichte im Großen und Ganzen die gleiche ist, sind die Seherfahrung und der Kontext sehr unterschiedlich.
Wie haben Sie dabei zusammengearbeitet? Existierte die Musik bereits oder haben sich Film und Musik organisch entwickelt?
Etwa die Hälfte der Musik war schon komponiert. Wir verwenden sieben Stücke, von denen drei bereits vorher existierten. Es fühlte sich wie ein Briefwechsel zwischen uns an, bei dem sie mir Musik schickte und ich ihr Drehbuchideen und später Bilder zurückschickte. Die beiden Filme sind das Ergebnis eines langen Diskurses.
Wie stark ist in Japan die Sorge um Ökologie und Umweltschutz?
Oberflächlich betrachtet sehen die Dinge in Japan sauber aus, aber dieses Idyll trügt. Es gibt viel Umweltverschmutzung, die gerne versteckt wird. Wirtschaftlicher Erfolg ist wichtiger als Klimaschutz, das ökologische Bewusstsein allgemein sehr gering. Ich nutze das Beispiel Glamping, um zu zeigen, wie die japanische Gesellschaft oft die Konsequenzen solcher Prestigeprojekte ignoriert oder sie unter den Teppich gekehrt werden.
Was hat es mit dem Titel auf sich? Gibt es das Böse oder nicht?
Der Titel kam mir beim Anblick der traumhaften Landschaft dort in den Sinn, noch bevor ich das Drehbuch schrieb. Aber natürlich gibt es in der Natur auch eine Menge Brutalität und Gewalt, auch wenn es oft nur schwer zu erkennen ist. Und oft ist die Natur bedroht, wenn der Mensch eingreift und das Gleichgewicht stört. Um diesen Mechanismus geht es mir und um die Frage, ob Menschen Teil der Natur sind oder nicht. Wir Menschen haben einen freien Willen und können Entscheidungen treffen, gute und schlechte. Damit haben wir eine Verantwortung, für uns, für andere und für die Welt um uns herum.
In Ihren Filmen gibt es oft Figuren, die eine emotionale Last mit sich tragen, die sich dem Zuschauer erst im Laufe des Films langsam offenbart.
Alle meine Figuren haben eine Vergangenheit oder eine Geschichte, oft nur angedeutet. Und die ist nicht immer eine glückliche, wir alle haben Enttäuschungen erlebt. In meinen Filmen kommen diese Prägungen der Vergangenheit zum Vorschein, wenn Menschen interagieren. Wie in diesem Fall die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Takumi fällt es schwer, mit anderen Menschen zu kommunizieren, er hat einen weitaus besseren Draht zur Natur, dort fühlt er sich wohl. Er lebt mit seiner Tochter Hana allein, ob die Eltern sich getrennt haben oder die Mutter verstorben ist, wissen wir nicht. Aber es gibt eine Leerstelle und die Beziehung zwischen Vater und Tochter wäre eine andere, wenn die Mutter noch da wäre. Vielleicht ist ihre Abwesenheit auch der Grund, warum das kleine Mädchen immer wieder verschwindet, doch darüber wird nicht gesprochen. Auch der Film lässt das bewusst offen.
Verstehen Sie das unter der Art Unvollkommenheit, die Sie in Ihren Filmen suchen?
Ich versuche, das Publikum bis zu einem gewissen Grad zu überraschen und manchmal auch zu verwirren. Das macht mir am meisten Freude. Auch als Zuschauer mag ich Filme, in denen es Dinge gibt, die ich nicht verstehe. Weil auch die Welt nicht so funktioniert. Es gibt so viele Filme, die dem Publikum ein sicheres Gefühl geben und alles erklären und auserzählen. Das finde ich langweilig. Viel interessanter sind doch Filme, die uns herausfordern, die den Rahmen unserer Denkgewohnheiten sprengen.
Müssen Sie denn Ihre eigenen Filme verstehen?
Nicht unbedingt auf eine logische Art und Weise. Wir konzentrieren uns zu sehr darauf, einen Film rational verstehen zu wollen und auf alles eine Antwort zu bekommen. Es geht doch auch um das Körperliche und Emotionale, ob ich mich unwohl fühle oder nicht. Film ist vor allem ein audiovisuelles und auditives Medium, in das man eintaucht, dem man sich hingibt. Genießen Sie die Stimmung der Bilder im Einklang mit der Musik. Der Drang, die Geschichte bis ins Letzte erklären zu wollen, ist da nur hinderlich. Es ist wie bei einem Song, der so viel mehr ist als die Lyrics. Auch meine Filme sind mehr als die Handlung und Dialoge.
Sie werden als Filmemacher international gefeiert, für „Drive My Car“ erhielten Sie einen Oscar. Wie werden Sie in Ihrer japanischen Heimat wahrgenommen? Und haben Sie vielleicht ein bestimmtes Publikum im Sinn, wenn Sie einen Film machen?
Generell mache ich Filme nicht für ein bestimmtes Publikum. Sie müssen meinen eigenen Ansprüchen genügen. Und dann hoffe ich, dass es Leute gibt, die mögen, was ich mache. Damit ziehe ich auch in meiner Heimat nicht das große Publikum an, eher einen überschaubaren Kreis cinephiler Menschen. Daran hat auch der Oscar nicht viel geändert.
Foto: Gabriel Bouys/AFP/Getty Images
Ryusuke Hamaguchi 1978 geboren in Kawasaki, gehört zu einer neuen Generation von Autorenfilmern in seiner Heimat Japan – mit eigener Handschrift und komplexen Ideen, die Erfahrungen aus Theater, Kunst und Musik im Kino zusammenbringen