In den sozialen Medien wurden schon Bilder von Grabsteinen mit der Inschrift „Eurovision Song Contest 1956-2024“ geteilt, denn es sah in den 24 Stunden vor dem Finale zwischendurch so aus, als würde die ganze Veranstaltung kollabieren. Würde der ESC 2024 der letzte sein?

Die Niederlande wurden vom Contest ausgeschlossen, und bis zum Beginn der Show am Samstagabend war nicht ganz klar, warum. Das Wording der Pressemitteilung der European Broadcasting Union (EBU) legte zunächst nahe, dass es sich bei dem Ausschluss von Joost Klein um eine MeToo-Sache handelte, und kein Bezug zu den Boykott-Aufrufen gegenüber Israel bestünde. Doch es blieb Raum für Spekulationen. Später veröffentlichte das niederländische Fernsehen ein Statement, das von einem lautstarken Konflikt berichtete, bei dem es darum ging, dass Joost Klein nicht gefilmt werden wollte. Die Delegationen von Irland, Spanien und Griechenland hatten sich ebenfalls darüber beschwert, dass sie ungefragt gefilmt worden waren – und zwar von der israelischen Presse, während bei der letzten Pressekonferenz vor dem Finale die Performer Griechenlands und der Niederlande mit kindischen Gesten (Augenverdrehen, das Gesicht mit der Fahne bedecken) auf die Äußerungen der israelischen Sängerin reagiert hatten. Die Fragen türmten sich auf und überlagerten sich, was war als Reaktion worauf zu werten, die kleinste Geste wurde in der digitalen Echokammer zum Glaubensbekenntnis. Paranoia schuf immer neue Interpretationen, die fragwürdig waren und eher die aufgeheizte Stimmung vor Ort dokumentierten, als die Wahrheit über die Geschehnisse zu enthüllen. Im Hintergrund immer der Konflikt Israel-Palästina.

Kopfschütteln über die Verantwortlichen in Malmö

Bei den Proben am Samstagnachmittag fehlten dann mehrere Länder, und das Gerücht kam auf, die Show könnte möglicherweise gar nicht stattfinden – weigerten sich inzwischen einige Länder überhaupt aufzutreten? Was hinter den Kulissen passierte, war nicht klar, aber die EBU überzeugte nicht gerade mit ihrer Kommunikationspolitik und der Verdacht drängte sich auf, die Verantwortlichen vor Ort sind nicht auf die Situation vorbereitet und schlicht überfordert. Das wiederum sorgte für Kopfschütteln, denn wer hatte ernsthaft geglaubt, der Konflikt Israel-Palästina könnte in dieser Woche ignoriert werden, zumal Malmö auch noch die größte muslimische Gemeinde Schwedens hat.

Schließlich waren es nur mehrere Kommentatoren nationaler TV-Stationen (Norwegen, Finnland), die die Show am Abend boykottierten. Zwar konnte man die Buh-Rufe in der Halle deutlich hören, wenn Martin Österdahl, Supervisor und Leiter des Live-Events für die EBU, im Bild erschien, im Großen und Ganzen verlief die Veranstaltung aber reibungslos. Angesichts der vielen propalästinensischen Kundgebungen (und ein paar kleineren proisraelischen) vor der Halle, dem Polizeiaufgebot und den Hubschraubern über der Arena war das keine Selbstverständlichkeit.

Erleichterung: Kein ESC in Tel Aviv

Statt der Wehmut über das immer viel zu schnelle Ende des ESC überwiegt bei vielen Fans diesmal Erleichterung, dass der Spuk vorbei ist. Die Jurys haben Nemo aus der Schweiz zum Sieg verholfen (und Deutschland zu einem respektablen 12. Platz), die israelische Künstlerin Eden Golan hatte zwar mehr Stimmen im Televoting bekommen, von den europäischen Jurys aber nur eine lauwarme Reaktion (Ausnahme Deutschland, hier gab es 8 Punkte aus der Jury und 12 Punkte im Televoting für Israel). Auch darüber herrschte am Ende Erleichterung, kein ESC in Tel Aviv oder Jerusalem im nächsten Jahr, sondern irgendwo in der beschaulichen Schweiz.

Viele Fragen bleiben offen: Die EBU kann sich die politische Lage nicht vom Leib halten wie gewünscht. Sollte es neue Regeln für den Ausschluss von Ländern geben, die in militärische Konflikte involviert sind, damit eine Krise wie die in Nahost nicht den ESC heimsuchen kann? Oder sollte der ESC sich genau umgekehrt positionieren: Lasst uns nicht so tun, als wenn Unterhaltungskultur jenseits der politischen Lage in und um Europa herum existieren kann, sondern beim ESC offensiv die Fragen addressieren, die die Bedingung europäischer Kultur- und Medienarbeit bilden. Aber wie soll ein Popfestival Fragen gerecht werden, die die Politik bisher nicht lösen konnte und über die schon andere kulturelle Institutionen (zum Beispiel die Berlinale) und Hochschulen in die Krise geraten sind?



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Von Veritatis

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