Vor 75 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft, eine Verfassung, in die viele Elemente der wehrhaften Demokratie eingebaut sind. Doch verteidigt werden muss die Republik letztlich von den Bürgern.
In der Ruinenlandschaft, die Hitlers Weltkrieg in Deutschland hinterlassen hatte, wirkte die Pädagogische Akademie in Bonn wie ein Ufo von einem fernen Planeten, der menschlichen Zivilisation um Zeitalter voraus. Die Akademie war von 1930 bis 1933 im nüchternen Bauhausstil errichtet und durch Zufall vom Bombenhagel verschont worden. Es hätte keinen besseren Versammlungsort für den Parlamentarischen Rat geben können, der eben hier vom 1. September 1948 bis zum Mai 1949 die Verfassung für eine neue deutsche Demokratie entwarf – das Grundgesetz. Am 8. Mai vor 75 Jahren wurde es beschlossen, am 23. Mai offiziell verkündet.
Es war der zweite Versuch der Deutschen, eine Demokratie zu begründen. Der erste war 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gescheitert. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten aus dieser Katastrophe Lehren ziehen. Eine davon war, dem Staatsoberhaupt eine wesentlich schwächere Position zu geben. In der Weimarer Republik war der Reichspräsident eine Art Ersatzkaiser gewesen, der direkt gewählt wurde und mit enormen Machtbefugnissen ausgestattet war, was in der Endphase wesentlich zur Destabilisierung der Demokratie beigetragen hatte.
Eine zweite Lehre war die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums: Ein Kanzler sollte nur noch dann gestürzt werden können, wenn sich das Parlament gleichzeitig auf einen neuen einigen konnte. In der Weimarer Republik war das nicht so gewesen, was den Eindruck der Lähmung verstärkt hatte. Mit am wichtigsten: Auch auf Drängen der westlichen Besatzungsmächte wurden die Grundrechte ganz nach oben an den Anfang des Textes gesetzt. Und es wurde ein wirkmächtiges Verfassungsgericht begründet. „Es bringt das Grundgesetz zum Sprechen und wendet es auf neue Lebensumstände an“, sagt der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP).
Debatte über besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts
Das und mehr sind Reaktionen auf Weimar. „Gleichwohl muss man sagen, dass die Mär, die viele Jahre in Deutschland verbreitet wurde, dass Weimar nämlich an seiner Verfassung gescheitert sei, nicht haltbar ist“, sagt Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, der Deutschen Presse-Agentur. „Weimar fehlte es vor allem an Demokraten – Personen, die sich mit der demokratischen Verfassung identifizierten.“
Mit der Erfahrung des Nationalsozialismus noch unmittelbar vor Augen bauten die Verfasser des Grundgesetzes viele Elemente der wehrhaften Demokratie in die neue Staatsordnung ein. Dazu gehören hohe Hürden für Parteiverbote, für die Aberkennung von Grundrechten oder eine Veränderung des Grundgesetzes in essenziellen Punkten. „Aber wir müssen auch hier feststellen, dass es keine völlige juristische Absicherung der Demokratie gibt“, so Voßkuhle. „Letztlich kommt es darauf an, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger die demokratische Ordnung unterstützen. Zurzeit beobachten wir weltweit einen Trend zu einer elektoralen Autokratie.“
Das Ungarn von Viktor Orban und das Polen unter der früheren nationalkonservativen PiS-Regierung sind Beispiele für Staaten, die die Meinungsvielfalt systematisch beschneiden, Medien auf Linie bringen und Gerichte als Kontrollinstanzen schwächen. Es gibt dort zwar noch Wahlen, aber die Regierung versucht sicherzustellen, dass ihr die Macht nicht mehr entgleitet. Voßkuhle zweifelt nicht daran, dass das in gewissem Umfang auch in Deutschland möglich wäre.
Debatte über besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts
Vor diesem Hintergrund läuft schon seit längerem eine Diskussion darüber, wie das Bundesverfassungsgericht besser vor Demokratiefeinden geschützt werden kann. Konkret geht es darum, die Amtszeit von Verfassungsrichtern im Grundgesetz festzuschreiben: Das könnte verhindern, dass sie bei einem Regierungswechsel Richter vergleichsweise einfach aus dem Amt entfernt werden könnten.
„Demokratien haben stets auch die Neigung, sich gegen sich selbst zu wenden“, meint Voßkuhle. Aufseiten der Bürgerinnen und Bürger gebe es immer ein gewisses Misstrauen, ob die Politiker ihre Wahlversprechen einhielten und sich nicht von egoistischen Motiven leiten ließen. Und umgekehrt seien die Politiker immer der Versuchung ausgesetzt, sich nicht mehr an die Spielregeln zu halten, wenn sie erst einmal gewählt seien. „Deshalb wird über die Ausgestaltung der Demokratie immer gerungen. Das kann gar nicht anders sein. Ich warne auch davor zu glauben, dass es einmal so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der Demokratie gegeben hat.“
Heute leben nur noch wenige Menschen, die sich an die Gründung der Bundesrepublik vor 75 Jahren erinnern können – und damit auch noch an den Krieg und den Holocaust. Voßkuhles Vater, verstorben 2010, war so jemand – er war im Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen. „Wieviele Nächte sind wir zusammengesessen und haben über den Nationalsozialismus gesprochen?“, erinnert sich der heute 60 Jahre alte Sohn. „Das fällt mittlerweile weg.“ Und damit verschwinde auch ein gewisses Maß an Sensibilität dafür, dass es nicht selbstverständlich ist, in einer Demokratie zu leben. Ähnlich sieht es der 91 Jahre alte Gerhart Baum, der durchaus noch Erinnerungen an den Krieg hat. „In der Tat geht Sensibilität verloren, wenn sie nicht immer wieder aktiviert wird“, sagt er der dpa. Die Demokratie werde heute nicht nur von Verfassungsfeinden bedroht, sondern vor allem auch von Gleichgültigkeit.
Bedrohung der Demokratie durch AfD-Erfolge
Voßkuhle erzählt von einer Untersuchung, die er neulich gelesen hat: „Der amerikanische Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat festgestellt, dass zwischen 1788 und 2008 die Macht 554 Mal durch Wahlen und 577 Mal durch einen Umsturz in andere Hände überging und dass 68 Länder, darunter Russland und China, noch nie einen Regierungswechsel zwischen Parteien infolge einer Wahl erlebt haben.“ In Westdeutschland gibt es die Demokratie jetzt seit 75 Jahren, in Ostdeutschland seit 34. Eigentlich sind das noch keine langen Zeiträume – und doch scheint sich bei vielen Wählern eine gewisse Unbekümmertheit breitzumachen.
„Wir sind jetzt in der bedrückenden Situation, dass wir in einigen Bundesländern erwarten müssen, dass die AfD stärkste Partei im Parlament wird – eine Partei mit einem problematischen Verständnis von Demokratie“, sagt Voßkuhle. „Das wäre eine Zäsur. Das würde das politische System verändern. Insofern sind wir gerade in einem Moment, in dem die Situation kippen könnte.“ Das Jahr des Grundgesetz-Jubiläums dürfte ein entscheidendes werden in der Geschichte der bundesdeutschen Demokratie. (dpa)
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