Ralph Thiele weiß, dass die Welt gewalttätiger wird – allerdings nicht nur im Osten Europas, wo der Ukrainekrieg tobt. Im Gespräch erklärt der Oberst a.D., warum die „Haudrauf-Mentalität“ gegen Moskau die falsche Strategie ist


Ralph Thiele warnt vor „Kriegsgeschrei“

Foto: Janine Schmitz/photothek/picture alliance


In den Talkshows wird Aufrüstung und Krieg das Wort geredet. In der Bevölkerung wächst Angst. Während prominente Sicherheitsexperten vom „letzten Sommer im Frieden“ sprechen, hält Ralph Thiele mit Nachdruck dagegen. Gerade hat der frühere Bundeswehroberst den Appell „Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus“ mit unterschrieben. Hier erklärt er, warum er immer wieder als „Lumpenpazifist“ bezeichnet wird – und warum er trotzdem weiter für eine diplomatische Lösung im Ukrainekrieg wirbt.

der Freitag: Herr Thiele, lebt Deutschland in Panik?

Ralph Thiele: Tatsächlich bin ich in großer Sorge, dass ausufernde Rhetorik bei vielen Menschen in Deutschland Kriegsangst schürt, die ich inhaltlich un

Ralph Thiele: Tatsächlich bin ich in großer Sorge, dass ausufernde Rhetorik bei vielen Menschen in Deutschland Kriegsangst schürt, die ich inhaltlich und zeitlich für nicht solide begründet halte – da redet Sönke Neitzel marktschreierisch von einem „letzten Sommer im Frieden“, Carlo Masala fabuliert sich Kriegsszenarien zusammen. Auch Claudia Major haut gerne mit Kriegswaffen und ohne Diplomatie drauf bei hoher Talkshowfrequenz.Warum passiert das?Da kann ich nur spekulieren – ich hoffe nicht, dass der ein oder andere vornehmlich Bücher verkaufen will. Bücher verkaufen sich vermutlich besser mit Kriegsgeschrei. Bei einer Reihe von Verantwortlichen in Politik und Administration, die den Krieg in der nächsten Legislaturperiode verorten, frage ich mich, inwieweit diese ein Interesse haben, ihre eigenen Versäumnisse der letzten Jahre vergessen zu machen. Man könnte ja fragen: Was haben Sie konkret unternommen, um die Verteidigungsfähigkeit und Abschreckungsfähigkeit Deutschlands zu stärken? Auch mit Blick auf hybride Bedrohungen? Deshalb ist wohl auch ständig vom Jahr 2029 die Rede.Im Jahr 2029 soll Russland fähig sein, die Nato anzugreifen. Dieser Alarmismus verschleiert, was nötig wäre, damit wir verteidigungsfähig sind.„Die derzeitig verbreitete Panikstimmung, begleitet von einer gigantischen Verschuldung für Aufrüstung, löst Europas Sicherheitsprobleme nicht“, heißt es in dem vom Politikwissenschaftler Johannes Varwick initiierten Appell „Rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus“. Sie haben auch unterschrieben. Hatten Sie keine Angst, als Lumpenpazifist beschimpft zu werden?Ach, das passiert sowieso! Ich werde als „Lumpenpazifist“ beschimpft, weil ich neben Verteidigung und Abschreckung auch noch für Diplomatie bin. Es ist schon schräg. Vernünftige Sicherheitspolitik beruht auf drei Säulen: Verteidigungsfähigkeit, Abschreckung und Diplomatie. Wie steht es denn um die deutsche Sicherheitspolitik?Schlecht. In den vergangenen drei Jahren haben wir die Bundeswehr leer gemacht, indem wir unsere (wenigen) funktionierenden Waffen und vorhandene Munition in die Ukraine geschickt haben. Und lange vorher haben wir die Armee ausgedünnt. Und Diplomatie ist ja immer mehr zum Schimpfwort geworden. Warum ist man sofort ein „Putinversteher“, wenn man den bellizistischen Kurs nicht mitfährt? Natürlich ist Russland gefährlich. Aber die Bellizisten hierzulande sind es auch!Dann wurde Ihnen abgeraten, den Appell zu unterschreiben?Ja, tatsächlich, es erfordert Mut. Heutzutage wird man sehr kombattant angegangen, auch von Wissenschaftlern, die sich zu Unrecht als Bellizist bezeichnet sehen. Ich habe ihnen aus dem Lexikon vorgelesen: Ein Bellizist ist einer, der vorwiegend mit kriegerischen Mitteln politische Ziele verfolgt. Genau das tun diese Leute. Unsere Politik, unterstützt von den Bellizisten, sagt, es hat keinen Zweck, sich diplomatisch um Frieden zu bemühen. Und deshalb sind wir ohne Strategie in den letzten drei Jahren den amerikanischen Weg mitgegangen, den Frieden für die Ukraine herbeizubomben.Haben Sicherheitsexperten wie Carlo Masala, Claudia Major, Christian Mölling, Sönke Neitzel oder auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann wirklich allesamt Unrecht und Russland ist gar nicht so gefährlich?Drei Jahre haben wir völlig auf Diplomatie verzichtet und zugleich unsere Verteidigung und Abschreckung geschwächt. Das ist hochriskant. Natürlich ist Russland gefährlich. Aber die Bellizisten hierzulande sind es auch! Sie haben gegenüber sicherheitspolitisch erfahrenen Diplomaten, Politikern oder Soldaten begrenzte Ahnung von den praktischen Aspekten der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie können aktuelle Sicherheitspolitik einordnen und bewerten. Wenn sie Politik vor sich hertreiben wollen, handeln sie anmaßend und sogar fahrlässig, denn sie müssten es als Wissenschaftler besser wissen. Man nehme einen Professor Neitzel – er ist zweifellos ein herausragender Historiker. Seine Kompetenz liegt allerdings nicht in der Bundeswehrplanung oder in der Zukunftsforschung. Historiker können und sollten sogar aktuelle wichtige Entwicklungen zeitgeschichtlich einordnen. Sie sollten aber nicht den Menschen Angst machen.Sie wollen der Ukraine helfen.Das tun sie aber nicht! Es entsteht vor allem Schaden und wenig Nutzen. Die Ukraine blutet aus. Hunderttausende sterben. Nicht nur Soldaten, sondern auch die Zivilbevölkerung und die infrastrukturelle Substanz des Landes leiden enorm. Da muss erst jemand wie Donald Trump kommen, um mit Wladimir Putin ins Gespräch zu gehen und zu erreichen, dass endlich verhandelt wird und über Waffenstillstand gerungen wird.Aber ist nicht offensichtlich, dass Russland derzeit gar kein Interesse an Frieden hat und die Verhandlungswilligen nur hinhält? Zum Verhandeln gehören ja mindestens zwei …Tatsächlich verhandelt Putin – gewieft und erfahren. Ob Trump dem gewachsen ist, wird man sehen müssen. Aber Trump hat einen Weg in Verhandlungen gefunden. Wir Europäer offensichtlich nicht.Hat die deutsche Politik wirklich, wie es im Appell heißt, „Maß und Mitte verloren“?Politikeralltag beginnt morgens mit dem Presse- und Medienspiegel. Der entscheidende Mangel in Deutschland ist allerdings Strategiearmut. Kluge Strategie wäre ein hinreichendes Gegengewicht. Ohne Strategie – das ändert sich hoffentlich demnächst – fehlt das Gegengewicht. Warum ist man sofort ein Putinversteher oder Lumpenpazifist, wenn man den bellizistischen Kurs nicht mitfährt? Auch das war Motivation für mich, den Appell mit zu unterzeichnenSie sind Oberst der Bundeswehr …… nicht mehr, ich bin 71 Jahre, ich war 40 Jahre Soldat. Ich habe das Ende des Kalten Krieges miterlebt, war in der Phase des Umbruchs nach dem Ende des Warschauer Paktes bei vielen hochrangigen Gesprächen des NATO-Oberbefehlshabers mit den mittel- und osteuropäischen Ländern als dessen enger Mitarbeiter involviert. Ich bin nicht naiv und auch kein Pazifist. Ich weiß, dass sich für den Krieg rüsten muss, wer den Krieg nicht will. Aber genau das haben wir ja nicht getan! Also müssen wir kriegstüchtig werden, um friedenstüchtig zu sein?Exakt. Beides haben wir versäumt. Und jetzt heißt es, „Hoppla, es gibt Krieg“.Was halten Sie von dem vielen Geld, das jetzt in Aufrüstung fließen soll?Der Terminus Aufrüstung scheint mir irreführend. Es geht zuallererst einmal um eine angemessene Rüstung mit Blick auf Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung. Außerdem, noch fließt ja nichts. Dennoch ist der Beschluss eigentlich eine gute Nachricht für die Streitkräfte. Damit die Bundeswehr tatsächlich nicht weiterhin Substanz verliert, sondern gewinnt, müsste man sich in einer Zeit enormer, rapider Technologiesprünge vorneweg Gedanken machen, wie das Geld klug investiert wird. Die Ausgabeentscheidungen fallen dann hoffentlich in diesem Kontext.Was halten Sie von der aktuellen Wehrpflicht-Debatte?Sie kommt zu früh. Erst muss die Bundeswehr einsatzfähig und besser ausgerüstet werden, sonst hilft auch eine Wehrpflicht nichts. Ohne Frauen ist sie ohnehin aus der Zeit gefallen. Der Zusammenhang mit Reservisten ist wichtig. Mit Blick auf die dringend verbesserungsfähige Resilienz gegenüber hybriden Bedrohungen gebietet es sich zudem, die Personallage bei Feuerwehr, Zivil- und Katastrophenschutz und Polizei – mithin alles tragende Säulen der deutschen Sicherheitsarchitektur – mit ins Visier zu nehmen.Wie sehen Sie die Bedrohungslage? Generell wird die Welt gewalttätiger, allerdings nicht nur im Osten Europas, sondern auch rund um Balkan, im Nahen Osten und Nordafrika, in Asien, wo Deutschland perspektivisch vorwiegend das Geld verdient, um Krankenversicherung und Renten zu bezahlen. Im Wettbewerb der Großmächte um eine neue Weltordnung schwindet die Relevanz bisheriger Normen. Es kommen viele Probleme auf uns zu. Der einseitige Fokus auf Russland als Feind ist irreführend mit Blick auf die Bewältigung künftiger sicherheitspolitischer Herausforderungen. Russland kommt nicht mal mit der Ukraine zurecht.Dann ist auch Noch-Außenministerin Annalena Baerbock auf dem falschen Dampfer? Sie weiß es nicht besser. Das liegt auch daran, dass eine offene Diskussion in Deutschland zurzeit kaum möglich ist. Heute braucht man Mut, wenn man vernünftig diskutieren will, weil abweichende Auffassungen mit großer sprachlicher Gewalt sanktioniert werden. Es muss doch möglich sein, anständig zu streiten! Warum ist man sofort ein Putinversteher oder Lumpenpazifist, wenn man den bellizistischen Kurs nicht mitfährt? Auch das war Motivation für mich, den Appell mit zu unterzeichnen. Ich wünsche mir für Deutschland eine offene und breite Diskussion, kluge Entscheidungsprozesse genauso wie die konsequente Umsetzung von Entscheidungen. Daran wirke ich gerne mit.Im Amt des Außenministers brauchen wir keine Haudrauf-Mentalität, denn das ist lebensgefährlich für alle BeteiligtenWelche Aufrüstung halten Sie für erforderlich? Was sind, gemäß Appell, „sinnvolle Investitionen in eine defensive Ausstattung der Streitkräfte, die abschrecken, aber nicht weiter das Sicherheitsdilemma verschärfen“? Die Bundeswehr ist mit einem hohen Maß an hohlen Strukturen in großem Ganzen nur marginal einsatzfähig – in Deutschland und auch an anderen denkbaren Einsatzorten. Es fehlt an Waffensystemen, Munition, Logistik, Durchsetzungsvermögen, Reichweite und auch zeitgemäßer Modernität. Bei der Koordination von Präzisionswaffen im Einsatz fehlt uns die Fähigkeit, relevante Daten zu erfassen und für die präzise Anwendung zu nutzen. Ohne diese Datennutzung hat man in modernen Kriegen keinen Erfolg. Hier sind wir überwiegend auf US-Hilfe – sogar Führung – angewiesen, obwohl diesbezügliche wissenschaftliche und technologische Kompetenzen in Deutschland und Europa gut verfügbar sind. Unsere mangelhafte Ambition ist beschämend.Aufrüstung löse Europas Sicherheitsprobleme nicht, heißt es im Appell. Es gelte, „den Krieg in der Ukraine mithilfe kluger politischer Kompromisse über Verhandlungen zu beenden“. Sehen Sie mit einem Außenminister Johann Wadepfuhl oder Armin Laschet die Chancen dafür größer als mit Baerbock?Laschet kann ich mir gut vorstellen. Wadepfuhl kenne ich zu wenig, dies seriös zu beurteilen. Sicherlich ist er außenpolitisch kein Amateur. Definitiv brauchen wir jedenfalls keine Haudrauf-Mentalität, denn das ist lebensgefährlich für alle Beteiligten.Sollte Boris Pistorius als Verteidigungsminister weitermachen?Mit einem stärkeren Team: ja. Er ist ein exzellenter Kommunikator und kein Haudrauf-Typ. Neuausrichtung der Bundeswehr braucht allerdings deutlich mehr sichtbare Erfolge und mehr Dynamik. Derzeit stolpert die Bundeswehr sicherheitsrelevantem technologischem Fortschritt hinterher.Wie kann es gelingen, sich wieder für Rüstungskontrolle und weltweite Abrüstung starkzumachen? Nicht alle Lehren von gestern sind untauglich. Ich würde mir gemischte Teams wünschen, die bewährte Erfahrung nutzen und auch neue Wege wagen – Leute, die auch Diplomatie in ihren Wirkmöglichkeiten voll nutzen.



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert