Im Westjordanland nimmt die Gewalt von israelischen Siedlern und Soldaten weiter zu. Die Regierung Netanjahu stört das ebenso wenig wie ihre Freunde im Ausland
Die Soldaten trafen das falsche Haus. Sie schossen trotzdem
Foto: Miriam Sachs
Was fragt man eine 22-jährige Witwe im Westjordanland, deren zweieinhalbjährige Tochter vor kurzem erschossen wurde, bei einer Razzia der israelischen Armee? Ein Versehen, falsches Haus, falsche Familie, dennoch in Kauf genommen. „Sorry!“, habe einer der Soldaten gesagt, erzählt Teema al-Khatib, die Mutter, bei CNN. Ihre Stimme dringt leise aus dem aufgeklappten Notebook, überlagert vom wie aus der Pistole geschossenen Englisch eines weiblichen Voiceovers. Sie sagt: „Ich muss stark bleiben und der Welt erzählen, was vorgefallen ist; das ist es, was meine Tochter Leyla gewollt hätte.“
Durch die offene Balkontür tönt das „Allahu Akbar“ aus einer Moschee unweit des Hotels in Ramallah, in dem ich die Nacht vor dem Treff
dem Treffen mit Teema verbringe. Es liegt an der Jaffa Street. Seltsamerweise heißt sie 55 Kilometer weiter südlich, in Jerusalem, genauso, bevor sie als Road 60 von dort ins Westjordanland führt.Die Fahrt nach Muthalath al-Shuhada, dem Dorf, in dem Teema bei ihren Eltern lebt, führt an zahlreichen Checkpoints der israelischen Armee vorbei. In einem Auto mit israelischem Kennzeichen sind sie leichter zu passieren. Der Fahrer, Raed, lebt in Ostjerusalem und ist Palästinenser, einst arbeitete er für die US-Botschaft. Rechter Hand fliegt eine neu entstehende jüdische Siedlung vorbei. Mehrere Container auf einem Hügel. „In kurzer Zeit werden daraus Hunderte von Häusern“, sagt Raed. Die Regierung von Benjamin Netanjahu sieht weg, wenn nationalreligiöse Siedler dort Fuß fassen, wo das nach internationalem und von Israel einst anerkanntem Recht nur Palästinensern vorbehalten ist. „Grab a hilltop“ (Schnapp dir einen Hügel) hatte der einstige Premier Ariel Scharon der jüdischen Bevölkerung geraten, als die Westbank palästinensisches Autonomiegebiet wurde. „Alles, was ihr euch jetzt nehmt, wird zu uns gehören, alles, was sie (die Palästinenser) sich nehmen, ist für immer verloren.“Anschlag auf eine LeitplankeIm Moment wirkt das Vorgehen der israelischen Streitkräfte (IDF) wie ein Rückeroberungsfeldzug. Einige Kilometer weiter, wo die Leitplanken zu Beton geworden sind, könnte man Aufprallspuren von einem Unfall sehen, falls Raed langsamer fahren würde. Aber wer langsam fährt, macht sich verdächtig. Schon verschwindet der Unfallort im Rückspiegel, an dem ein junger Palästinenser vor ein paar Tagen mit seinem Auto in die Straßenbegrenzung krachte. „Eine alte Karre, die Bremsen haben versagt“, meint Raed sehr sachlich. Die IDF hätten den Crash als versuchten Terroranschlag gedeutet und den 19-Jährigen erschossen. „Das wäre dann ein Anschlag auf eine Beton-Leitplanke gewesen.“Früher hätten sich israelische Militärs bei Situationen wie diesen manchmal großzügig verhalten. Seit dem Gaza-Krieg ist das anders. Nicht nur, weil er Feindbilder braucht und die entsprechende Propaganda sie zementiert. „Das Problem ist auch, dass seit dem 7. Oktober 2023 fast alle beim Militär sind. Wenn sich Palästinenser jetzt von der Armee Hilfe erhoffen, sehen sie sich oft radikalen Siedlern in Uniform gegenüber“, so Raed. Waren auch die Soldaten, die am 25. Januar so schnell das Feuer auf ein kleines Mädchen eröffneten, Siedler in Uniform, die kein Zeitfenster ließen, um vermeintlichen Terroristen die Chance zu geben, sich als Zivilisten auszuweisen? In der Regel werden Leute im Inneren eines Hauses durch Dauerbeschuss unter Druck gesetzt. Das Haus wird zum Schnellkochtopf. Das Reglement sieht eine Vorab-Warnung und die Gelegenheit für die Bewohner vor, sich zu ergeben. Entfällt das, weiß niemand, was er tut oder tun soll.Die Fahrt nach Muthalath al-Shuhada geht durch Jenin, eine Stadt, in der es mehr als anderswo in der Westbank brodelt und kocht. Die IDF haben Lager und Vororte geräumt, in denen seit dem 7. Oktober 2023 Flüchtlinge aus Gaza strandeten oder Pendler unterkamen, deren Arbeitserlaubnis wegen des Krieges schlagartig nicht mehr gültig war. Auf engstem Raum geballte Frustration und Wut. Bulldozer fahren durch Jenin. Neue Straßen haben bereits israelische Namen, aus zerstörten Leitungen sickert Wasser, die aufgerissene Straße unterhalb eines Camps glitzert nass in der Sonne. Aus dem Lautsprecher einer Moschee ruft es zum Freitagsgebet. Niemand wagt es, dem nachzukommen.Teemas Dorf liegt direkt hinter Jenin. Aus dem schmalen Fenster schräg über der Haustür schauen mindestens vier Gesichter – Kinder? Frauen? Ein scheu zum Selfie gezücktes Handy, ein ebenso scheues Winken meinerseits. So normal wirkt die Neugierde aufeinander. Was soll ich fragen? Willst du nicht lieber Ruhe vor der Welt, Teema? Decke über den Kopf, anstatt das, was passiert ist, stets von Neuem durchzugehen?Placeholder image-1Die Tür öffnet Bassam, Teemas Vater, 59 Jahre alt. „Teema ist es nicht möglich, über Leyla zu sprechen, sie braucht Ruhe, sie liegt in ihrem Zimmer mit der Decke über dem Kopf.“ Seine Tochter sei „wie in Stücke zerrissen. Wissen Sie, vor zwei Jahren starb Teemas Mann. Die kleine Leyla war es, die meiner Tochter Kraft gab.“Bassams Frau Ghada bringt Kaffee. Schnell stehen die kleinen Pappbecher auf dem Glastisch, schon ist sie davongehuscht. Ich sehe sie erst eine Treppe weiter oben wieder, als Bassam vom Tathergang erzählt. Im Gegensatz zu den Hellgrau-Tönen des Wohnzimmers ist es hier farbenfroher. Man sieht honiggelb und grün getönte Fenster, immer wieder blitzen Rosa und Pink auf. Auch wenn Bassam die Hauptperson der Familie ist, prägen doch Frauen dieses Haus, obwohl man sie kaum zu Gesicht bekommt.Bassam erzählt, was am 25. Januar passierte, als alle am Tisch beim Essen saßen. „Wir hörten Lärm von weit weg. Dann sehr plötzlich die Durchsagen aus dem Lautsprecher einer Drohne, dass wir das Haus zu verlassen hätten. Wir gingen automatisch zum Fenster. Man muss unsere Schatten von außen durch das bunte Glas gesehen haben. Da wurde schon geschossen.“ Die Schüsse kamen vom Haus gegenüber, sowohl vom Dach als auch aus dem Inneren des Gebäudes. Der Schmerz, der Bassam ins Gesicht geschrieben stand, als er von Leyla zu erzählen begann, ist verzweifeltem Eifer gewichen, wie ein Getriebener huscht er zum Fenster, kämpft mit den Vorhängen, geht zu Boden, da, wo seine Frau und er sich duckten, zeigt dann das Schlafzimmer der Töchter, dessen Tür nur einen Spalt offen stand. Teema hätte Leyla geschützt. Die Kugel traf die einzige ungeschützte Stelle – Leylas Kopf.Keine EntschuldigungWie konnte man Bassam, einen Lehrer für Biologie, mit einem Terroristen verwechseln? „Wir haben einen sehr verbreiteten Namen“, mutmaßt er. Dass man sein Haus durchsuchen wollte, akzeptiere er. „Aber man hätte in die Luft schießen können. Oder auf die Wände statt auf die Fenster. Gibt es im Krieg nicht das Gesetz, dass Zivilisten geschützt werden müssen?“ Niemand habe sich entschuldigt.Bassam war mit der schwer verletzten Leyla im Arm, ohne zu überlegen, aus dem Haus gerannt. Angeschrien habe er die Soldaten: „Wieso schießt ihr auf meine Töchter?“ Ein Militärarzt habe sich die Schusswunde angesehen und akute Lebensgefahr attestiert. Das Kind mit einem Armeefahrzeug ins Krankenhaus zu fahren, sei jedoch keine Option gewesen. In der Stellungnahme der IDF heißt es, man bedaure den Schaden, den Unbeteiligte genommen hätten. Der Vorfall werde untersucht, um daraus zu lernen. Letzteres bleibt zu hoffen. Die Aufnahmen eines Nachbarn, die Israelis zeigen, wie sie Überwachungskameras zerstören, lassen daran zweifeln.Von Rachegefühlen geprägt wirkt Bassam nicht, eher fassungslos und zugleich um Fassung bemüht. Sehr genau unterscheidet er zwischen israelischer Politik und jüdischer Bevölkerung: „Das ist ein großer Unterschied. Ein religiöser Mensch, ob Christ, Muslim oder Jude, respektiert das Leben.“ Auch die Siedler, die glauben, der Messias käme erst, wenn nur noch Juden in „Samaria und Judäa“ leben? Ja, sagt Bassam, die täten schlimme Dinge, zündeten Autos an, manchmal ganze Familien. Sie würden viel Angst verbreiten. Mit Religion habe das nichts zu tun. Er hält inne und zitiert den Koran: „Wer einem einzigen Menschen das Leben nimmt, begeht einen Mord an der ganzen Menschheit.“Die Rückfahrt kurz vor Sonnenuntergang führt durch weitere Dörfer. Am Wegesrand steht ein junger Siedler in Tramper-Pose, lange Schläfenlocken unter der gehäkelten Kippa. „Wollen wir den nicht mitnehmen?“, frage ich. „Ausgeschlossen!“ Raed ist sehr sicher. „Ein Auto mit israelischem Kennzeichen und der Fahrer ein Palästinenser? Der erschießt mich!“ – „Einfach so?“ – „Nein. Aus Notwehr, weil er denkt, er wird gekidnappt.“