Immer öfter erlebe ich folgende Situation: Die angenehme Ruhe eines Straßencafés wird jäh unterbrochen durch eine quäkende Stimme, die aus dem voll aufgedrehten Handy-Lautsprecher eines neu eingetroffenen Tischnachbarn schallt. Wir sollten dringend einige Tabus bei der Handynutzung erneuern. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Gründe für zunehmende Belastungen durch Handy-Lautsprecher in der Öffentlichkeit sind zum einen Video-Anrufe: Bei denen halten beide Gesprächspartner das Handy vor das Gesicht, um sich sehen zu können – sie müssen dann mit etwas Abstand laut in das Mikrophon hineinsprechen und den Lautsprecher aufdrehen um das Gegenüber zu verstehen. Zum anderen wird oft eine für mich rätselhafte Art des Telefonieren praktiziert, bei der das Gerät nicht ans Ohr gehalten wird, sondern waagerecht vor dem Mund.

Manchmal wird auch gar nicht telefoniert, dann hören sich Mitmenschen einfach in hoher Lautstärke Nachrichten, Songs oder schrille Werbung an – offensichtlich in dem Glauben, dass das auch die Umwelt zu interessieren hat oder dass diese das zumindest hinzunehmen hat. Diese neue Handy-Normalität fußt auch auf einer neuen Dreistigkeit (auch wenn das alles nicht ganz neu ist, die Verbreitung der Lautsprecher-Nutzung nimmt in meinen Augen aktuell massiv zu). Aufreizend ist auch die Wichtigkeit, die diese Bürger offenbar dem Konsum ihrer zum Teil trivialen Programme beimessen und das über die Bedürfnisse der Mitmenschen stellen.

Kapitulation vor dem Lautsprecher

In allen geschilderten Fällen muss der Lautsprecher des Telefons aufgedreht sein, was eine zunehmende Belastung für die Mitbürger ist. Das geschieht auf belebten öffentlichen Plätzen, auf Parkbänken, im Café, auf Krankenhausfluren, im Ruhebereich des ICE: Überall suchen die quäkenden Stimmen aus den Handy-Lautsprechern die Bürger nun zunehmend heim – zumindest in Berlin ist das an vielen Orten so. Das Verhalten, den Mitbürgern die konsumierten Inhalte und Gespräche aufzudrängen, wird oft mit einer provozierenden Selbstverständlichkeit praktiziert.

Und wie reagieren die meisten Mitbürger? Nach meinen Beobachtungen zunehmend mit Kapitulation: Die übergriffige Praxis wird fast immer einfach stoisch ertragen. Aufforderungen, einen Kopfhörer zu benutzen oder wenigstens den Ton etwas herunterzuregeln, beobachte ich sehr selten. Sind viele Mitmenschen wirklich schon so an die neue (super-nervige) Handy-Lautsprecher-Normalität gewöhnt? Oder scheuen sie die zunehmend aggressiven Reaktionen, wenn man Mitbürgern heutzutage zu nahe kommt? Diese aggressiven Reaktionen sind übrigens nicht „unbegründet“ – die Tendenz, den Bürgern in ihr Alltagsverhalten hereinzureden, ist stark und sie ist abzulehnen. Der Hinweis, im Café doch bitte einen Kopfhörer zu benutzen, fällt meiner Meinung nach aber nicht in die Kategorie der neuen übergriffigen Bevormundung.

Ein Spezialfall ist es, wenn Kinder im Spiel sind: Kürzlich habe ich beobachtet, wie ein Elternpaar daran gescheitert ist, der kleinen Tochter wenigstens für die 15 Minuten im Café zu verbieten, ihre Kindersendungen laut anzuhören. Die Folge war zuerst das unnachgiebige Quengeln des Kindes und nach dessen Sieg über die Eltern der Lärm aus dem Taschencomputer, den das ganze Café zu ertragen hatte.

Berechtigte Tabus sollten verteidigt werden

Die Lärmbelastung durch Handys gehört natürlich noch zum eher harmlosen Bereich der teils gravierenden Folgen der Digitalisierung der Gesellschaft für den Bildungsstand, für das generelle Zusammenleben, für Bereiche wie Überwachung, Zensur usw. Sie sollte aber dennoch nicht verniedlicht werden.

Zum Schutz der Kinder begrüße ich das geplante Handy-Verbot an Schulen, etwa in Hessen: In meinen Augen ist das eine überfällige Schutzmaßnahme, um den Nachwuchs wenigstens in der Schule vor Handy-Sucht und Cybermobbing zu bewahren und die digitale Ablenkung vom „realen Leben“ zu reduzieren.

Problematische Seiten können dagegen die Pläne für einen „Social-Media-Führerschein“ für Jugendliche haben, wie er etwa in NRW diskutiert wird, weil damit unter Umständen ein Zwang zur Identitätsoffenlegung im Internet und entsprechende Überwachungen verbunden sein könnten.

Um zum Ursprungsthema zurückzukommen, zur (unter anderem) tonalen Vermüllung der Gesellschaft durch unsensible Handy-Nutzer: Es ist höchste Zeit, problematische Seiten der alltäglichen Handy-Kultur zu erkennen und zu minimieren. Als Mindeststandard sollte selbstbewusst die Regel verteidigt werden, dass Handy-Lautsprecher an öffentlichen Orten tabu sind.

Titelbild: dabyki.nadya / Shutterstock



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Von Veritatis

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