„T und S gehen in eine Bar.“ Sie erwarten da jetzt vielleicht einen schlechten Buchstabenwitz, wer durch das Jura-Studium gegangen ist oder sich wie ich noch durchschleppt, muss da wohl eher an einen Strafrechtsfall denken. Egal, wie der Sachverhalt weitergeht, als Erstes wird man den Hausfriedensbruch prüfen und nach zwei Sätzen als offensichtlich nicht einschlägig ablehnen müssen. Sonst wäre das Gutachten unvollständig, der Prüfer will sehen, dass man erkannt hat, dass T und S in einen Raum gegangen sind. „Anprüfen“, nennt man das bei uns. 

Realismus ist das Erste, was man im Jura-Studium abgewöhnt, wenn nötig aus geprügelt bekommt. Spätestens ab dem dritten Semester nimmt man die Welt nicht mehr wirklich wahr. Beim Einkaufen zählt man die schuldrechtlichen und sachenrechtlichen Verträge mit – auch wenn man nur eine Banane kauft, sind das nämlich schon mehrere Verträge! – beim Spazieren denkt man über Baugenehmigungen nach, beim Krimi prüft man die Mordmerkmale durch. Alles hat Schemata, die man auswendig lernt und nur noch abrattert, das funktioniert alles automatisch. 

Irgendwann in diesem ja doch relativ langen Studium, vergisst man, wofür man es mal begonnen hat – meist, um Anwalt oder Richter zu werden. Es fühlt sich alles wie ein Selbstzweck an. Das verbissene Festhalten am Prinzip für die Wissenschaft, nicht weil es im Ergebnis irgendeinen Unterschied macht, ist ein Loch, in das man irgendwann unweigerlich reinfällt und von dem aus man den Rest der Welt nicht mehr wahrnimmt. Für diese abgebrühte Ernsthaftigkeit der Rechtsanwendung gibt es natürlich eine Notwendigkeit. 

Man nimmt ein komplexes, moralisches Dilemma aus der Wirklichkeit, kürzt die Namen der Beteiligten zu gesichtslosen Buchstaben ab und schreibt sie wie eine zweidimensionale Mathe-Textaufgabe auf einen Zettel. Die Rechtswissenschaft stellt den Versuch dar, Moral, Werte und Gerechtigkeit in objektive Formeln umzuwandeln, die man über diese Textaufgaben jagen kann und am Ende kommt dann hoffentlich eine gerechte Lösung raus. 

Irgendwann sieht man aber nur noch Textaufgaben und Formeln. Dann ist der Hausfriedensbruch für das Betreten eines Raumes das Einzige, das nicht strafbar ist. Man hat das Gefühl, irgendwie muss man zu einer Lösung kommen. Wenn die Frage lautet „Haben sich T und S strafbar gemacht?“, dann muss da auch irgendwas strafbar sein. Sonst wäre das Gutachten zu schnell vorbei, was gegen die Klausurtaktik verstößt und ins Hilfsgutachten zu gehen, fühlt sich falsch an. 

Mit diesem Tunnelblick werden Juristen nach bestandenem Staatsexamen, für das sie ein ganzes Jahr lang gelernt haben, in die Praxis gejagt. Manche verlieren ihn wieder, andere nehmen ihn noch mit in die Pension. So kann man sich viele Verfahren der Staatsanwaltschaften erklären. Irgendeine der vielen Meldestellen spült einen Tweet rein und schlägt vor, dass es sich hierbei um ein Hass- und Hetzdelikt handeln könnte. 

Das triggert das Jura-Studium-Gehirn und plötzlich findet man sich im Vorlesungssaal zur Klausur wieder. „Der Rentner R ist erzürnt über die Innenministerin Fancy Naeser F [solche Wortspielchen fallen übrigens unter den Begriff „Juristenhumor“]. Um seinem Ärger Luft zu machen, schreibt er auf der Social-Media-Plattform Y: ‚F ist eine schlechte Ministerin!` Hat sich R strafbar gemacht? Prüfen Sie, wenn nötig, im Hilfsgutachten. Bearbeiterhinweis: Paragraf 211 und 212 Strafgesetzbuch sind nicht zu prüfen.“ 

Und dann geht die Prüfung los: Naja, also jemanden als schlechte Ministerin zu bezeichnen, ist ja schon ehrverletzend. Und theoretisch könnte es die F ja an sich zweifeln lassen, dass sie eine gute Ministerin ist, was wiederum dazu führen könnte, dass sie ihr Ministeramt niederlegt. Also eine Beleidigung ist da definitiv schon mal drin. Und die Qualifikation des Paragrafen 188 StGB ist auch erfüllt. Fertig, nächster X-Post. 

Konfrontiert man einen Juristen mit einem Problem, sucht er nach Wegen, es zu lösen. Hinterfragen, ob es überhaupt wirklich ein Problem gibt, ist nicht im Prüfungsschema enthalten. Ähnlich laufen politische Debatten ab. Gespaltene politische Gesellschaft? Man könnte ja Hass und Hetze verbieten, wir können freie Meinungsäußerung ja so auslegen, dass das davon nicht mehr gedeckt ist. Klimawandel? Man könnte ja CO2 verbieten, das ist ja im Verhältnis zum Weltuntergang immer noch harmloser. Schlechtes Fernsehen? Man könnte ja Reality-Sendungen verbieten, die sollten nicht von der Rundfunkfreiheit gedeckt sein, weil sie nicht zur Meinungsbildung beitragen. 

Man redet so unglaublich gerne von den „Müttern und Vätern des Grundgesetzes“ und was die angeblich alles gewollt haben und wie toll wir doch alle das Grundgesetz finden, – doch die freiheitliche Grundordnung haben sie nicht verstanden. Sie sehen das Recht als positive Ordnung an, in der nur erlaubt ist, was gesetzlich gewährt ist, und alles um eine Existenzberechtigung kämpfen muss. Wenn etwas für sie keinen Mehrwert hat, kann man es auch verbieten. Von der Meinungsfreiheit ist nur gedeckt, was richtig, qualitativ hochwertig und nicht geschmacklos ist. Wer durch dieses Raster fällt, wird zermalmt in den Mühlen der Prüfungsschemajustiz.

Sie haben brisante Insider-Informationen oder Leaks? Hier können Sie uns anonyme Hinweise schicken.





Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert