Die Trump-Regierung ist hungrig nach Ressourcen beim nördlichen Nachbarn. Dabei können die indigenen Communitys das Ass im Ärmel sein, wenn der Kampf um Souveränität entbrennt


Das indigene Erbe verblasst im „Chemical Valley“ von Ontario

Foto: Larry Towell/Magnum Photos/Agentur Focus


In den Gebirgszügen des westkanadischen Banff-Nationalparks, in denen zuletzt kein einziger Büffel mehr zu sehen war, ziehen jetzt wieder Tiere umher. Mächtige Rinderherden gelten als Schlüsselspezies. Mit ihren Hufen, dem Dung, dem Fell fördern sie in malerischen Bergen und Ebenen wieder die Gesundheit des Ökosystems, wie es bis zum 19. Jahrhundert existiert hat. Dies ist auch das Ergebnis einer Übereinkunft von 2014 zwischen zunächst acht indigenen Blackfoot-Gemeinschaften aus den USA und Kanada. Der Vertrag wird jedes Jahr erneuert, mittlerweile sitzen 50 Unterzeichner mit am Tisch.

Jeff Corntassel – er zählt zur Cherokee Nation und lehrt indigenes Völkerrecht an der Universität von Victoria – erklärt, dass die Verei

die Vereinbarung auf einem Verwandtschaftskonzept beruhe, das auch die Nation der Büffel einbezieht, von denen zunächst 16 im Park ausgesetzt wurden. Er erinnert mit Nachdruck an die Vertreibungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder die Assimilierungsversuche während der 1950er Jahre. „Wir haben Unterdrückung und Landraub erlebt und die Hälfte unseres Volkes verloren. Aber uns stärkt die Verbindung zum Land, zu Pflanzen und Tieren. Wir sind widerstandsfähig. Und ob Büffel, ob Lachse oder Mais: Wir sehen unglaubliche Erfolge durch gemeinschaftliches Arbeiten.“Resilienz – das ist es, worauf Kanada derzeit gegenüber seinem südlichen Nachbarn hofft. Donald Trump soll Fan von William McKinley sein, der als Präsident zwischen 1896 und 1901 das US-Territorium um Hawaii, Guam, die Philippinen und Puerto Rico erweiterte. Der jetzige Präsident droht Kanada zuweilen mit Annexion. „Es ginge nur als feindliche Übernahme“, so Richard Heinberg vom Post Carbon Institute in Oregon. „Ein Szenario wäre, dass die USA mit Panzern auf Ottawa, Montreal, Toronto, Calgary und Vancouver vorrücken. Eine realistischere Strategie würde darin bestehen, die öl- und gasreiche kanadische Provinz Alberta zur Abspaltung zu bewegen, was den Rest des Landes destabilisieren dürfte. Dies würde es den USA ermöglichen, die übrigen Provinzen Stück für Stück aufzupicken.“In Kanada wird versucht, den Handel im Land anzukurbeln und auf mehr Verbindungen zu anderen Märkten in Asien und Europa bedacht zu sein. Die Zeitung The Globe and Mail gebraucht das Bild vom schlafenden Riesen wegen bisher zu wenig genutzter Potenziale bei natürlichen Ressourcen, bei der Auto- und Lebensmittelproduktion, bei Häfen, Kernkraft, KI und erneuerbaren Energien. Energie-, Rohstoff- und Infrastrukturprojekte sollen nun schneller genehmigt werden. Dazu zählen zwei neue Mega-Pipelines von Alberta zum Pazifik und Atlantik. Beide waren bislang von Energieunternehmen als unrentabel verworfen worden.Viele Kanadier haben die Regionen im Norden noch niemals gesehenMinen für kritische Mineralien, der Bau von Pipelines oder Bohrgenehmigungen – all dies trifft besonders die Ureinwohner Kanadas. Sie fordern mehr Mitsprache und Einbindung, zumal sie die Rechte über große Teile der betroffenen Gebiete beanspruchen. Kanadas Bevölkerung ist sehr ungleich verteilt, zwei Drittel der Menschen leben in einem Streifen von gut hundert Kilometern an der US-Grenze. Viele haben die Regionen im Norden noch nie gesehen. Das ändert sich womöglich, wenn Urlaubsreisen in die USA massenhaft storniert werden. „Das Unwissen hatte zwei Effekte, die ländlichen Communities zum Nachteil gereichten“, so Roger Epp, emeritierter Professor für Politikwissenschaft aus Alberta. „Einerseits wurde der ländliche Raum in dem Glauben romanisiert, das Land sei schlicht leer. Zugleich blieben das Ausmaß und die Zerstörungen unsichtbar, die mit der Industrie verbunden waren.“ Donald Trump müsse eigentlich klar sein, dass er es bei Kanada nicht nur mit zehn Provinzen und drei Territorien, sondern auch mit 630 First Nations, dazu Méti- und Inuit-Gemeinschaften zu tun habe.Aber längst nicht allen Kanadiern ist ihr eigenes historisches Vermächtnis im Augenblick der Gefahr bewusst. Dabei könnte es für gesellschaftliche Einigkeit entscheidend sein. Geht es um das Verhältnis zwischen Kanada und den Indigenen, berufen sich Wissenschaftler, Historiker und Juristen auf die kanadische Verfassung von 1982. Dieser Canadian Constitution Act erklärt alle bestehenden Verträge mit den Ureinwohnern für gültig und schlägt damit den Bogen in die Vergangenheit zu einer Erklärung des britischen Königs George III. aus dem Jahr 1763. Damit wurde anerkannt, dass die Gemeinschaften eigenständige Nationen seien, die Rechte an ihren traditionellen Territorien besäßen, die nicht ohne deren Billigung enteignet oder besiedelt werden dürfen. Jeder Landübertrag bedürfe bindender Verträge. Ein Jahr später, 1764, lud ein Abgesandter des britischen Königshauses, der selbst Mohawk sprach, über tausend Chiefs nach Niagara ein, um die vom König einseitig aufgesetzte Proklamation zu einem für beide Seiten verbindlichen Vertrag zu erheben. Durch Verhandlungen, Zeremonien und Geschenke wurde ein ebenbürtiges Verhältnis zwischen indigenen Gemeinschaften und europäischen Siedlern besiegelt, ein Leben Seite an Seite, zwei Boote in einem Fluss.Placeholder image-1Das sei nicht „woke“ oder „links“, sondern eine geschichtliche Tatsache, so der Politikwissenschaftler Roger Epp. „Es geht um unser verfassungsrechtliches Erbe und Ehrlichkeit gegenüber der Geschichte. Daraus resultiert die Erkenntnis: Wenn die USA mit Annexion drohen, können die Indigenen kein Anhängsel sein.“ Die kanadischen Politiker hätten sich für den Gedanken nie recht erwärmen können, und der Staat habe es nicht geschafft, diese Beziehungen zu institutionalisieren, sodass sie tragfähig seien und funktionierten. Dabei biete Kanadas föderale Idee Platz für indigene Souveränität. Viele Gerichtsurteile bestätigen das. Oft waren sie verbunden mit einem Stopp oder der Verzögerung industrieller Vorhaben und relativ hohen Entschädigungen für Communities. Wer das historische Erbe ernst nehme, so Roger Epp, müsse über Entschuldigungen für koloniale Vergehen hinausgehen und sich zu einer politischen Neuorganisation aufraffen. Eigentlich sei das kanadische Experiment noch nicht abgeschlossen.Ist dafür Zeit, gerade jetzt? Zwischen Kanada und den USA besteht mit 8.900 Kilometern die längste Landesgrenze weltweit. Sie ist nicht befestigt. Was an Militär vorhanden ist, geht auf die US-Armee zurück, von Waffen- und Kommunikationssystemen bis hin zu Übungen und Training. Sich in dieser Hinsicht auf eigene Beine zu stellen, kostet Geld, das schon durch den Handelskrieg mit den USA gerade nicht im Überfluss vorhanden ist. Nach Angaben der kanadischen Handelskammer hängen 2,3 Millionen Jobs an US-Exporten. Güter und Dienstleistungen im Wert von 2,5 Milliarden US-Dollar wechseln täglich hin und her. 25-Prozent-Zölle auf kanadische Waren, die im Raum standen und seit Anfang April zunächst abgewendet sind, könnten das Bruttoinlandsprodukt um 2,6 Prozent senken – das sind umgerechnet knapp 2.000 kanadische Dollar pro Haushalt und Jahr. Sobald die Wirtschaftskraft abnimmt, droht vielen Kanadiern Arbeitslosigkeit.Kanadas föderale Idee biete Platz für eine indigene SouveränitätVal Napoleon von der Saulteau First Nation, Rechtsprofessorin an der Universität von Victoria, sieht in der Besinnung auf rechtliche Traditionen eine Chance für das ganze Land, demokratische Resilienz aufzubauen. Es gehe darum, die bisherigen asymmetrischen Beziehungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den indigenen Gemeinschaften durch faire und symmetrische zu ersetzen. „Kanada hat ein Rechtssystem – und unsere Gemeinschaften haben Rechtssysteme. Verzerrt, verfremdet, niedergemacht, aber wir sind dabei, sie zu revitalisieren.“ Eine Initiative dazu sei ein dualer Studiengang mit indigenem und kanadischem Recht. Das 2012 gegründete Indigenous Law Research Unit sammelt mündlich überlieferte Traditionen und Gesetze, um sie in heutigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontexten zu nutzen. „Wir haben so viel Wissen, wie gesunde Bürgerschaften funktionieren und Menschen miteinander auskommen, wie sie kooperativ handeln und regieren. All dies sind Wege, um Netzwerke menschlicher Beziehungen zu schaffen, die Gesellschaften brauchen, um faschistischen Tendenzen zu widerstehen. Was wir hier machen, ist nicht nur wichtig für Kanada, sondern für die ganze Welt.“Seit einigen Wochen gehen viele Kanadier zu Elbows up-Rallyes (Ellenbogen hoch) auf die Straße, um angesichts der Drohgebärden aus dem Süden ihren Zusammenhalt zu zeigen. Die Maxime: „Sei bereit zu kämpfen.“ Doch gibt es auch nördlich der Grenze ölvernarrte Trump- und MAGA-Fans. In der Provinz Alberta können sich viele vorstellen, zum 51. US-Bundesstaat zu werden. Konservative träumen von der Sezession eines eigenständigen kanadischen Westens, sollte die liberale Regierung am 28. April wiedergewählt werden und sich gegen Pipelines und für Klimaschutzmaßnahmen aussprechen.Währenddessen werden neue Verträge geschlossen: für Büffel und Lachse, für Muschelgärten und kostbare Prärielilien. Wo indigenes Wissens zur Geltung kommt, hilft das der Biodiversität – wo der Widerstand gegen Rohstoffindustrien erfolgreich ist, kann sich die Natur oft schneller regenerieren als angenommen. Sich dem Schutz der Umwelt zuzuwenden – und sei es zur Abwendung einer imperialen Gefahr –, das verschafft den bereits dem Klimawandel stark ausgesetzten Kanadiern letztlich Zeit: „Wir alle müssen begreifen, dass die Zukunft der indigenen Lebensweise gehört, die sich den lokalen Ökosystemen anpasst – ganz gleich, ob diese Lebensweise von unseren Vorfahren überliefert ist oder mit dem unvermeidlichen Abbau der Industriegesellschaft aus der Not heraus gelernt wurde“, so Richard Heinberg vom Post Carbon Institute. Für Europa könne das eine Aufforderung sein, über alternativen Warenaustausch nachzudenken. „Kanadier boykottieren US-Waren – sie und die Europäer sollten indigene Waren von ganz ‚Turtle Island‘ kaufen!“, meint Jeff Corntassel, der zur Cherokee Nation gehört.



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Von Veritatis

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