Es ist als ikonische Aufnahme überliefert und symbolisiert das Kriegsende in Berlin. Die Soldaten des Siegers hissen die Sowjetfahne über der Reichshauptstadt – vor sich zerschossene Dächer, rauchende Trümmer im Hintergrund
Es ist eines der berühmtesten Fotos des 20. Jahrhunderts – in der Bildmitte fällt der Blick des Betrachters auf die Staatsflagge der UdSSR, sofort erkennbar an Hammer, Sichel und am fünfzackigem Stern. Ein Soldat der Roten Armee, Käppi, umgehängte Maschinenpistole, ist auf einen der Akrotere, die das Dachgesims des Berliner Reichstages säumen, geklettert und befestigt das Rote Banner. Ein Offizier sichert ihn ab.
Das Bild ist durchdacht komponiert. Rechts die schräge Linie des Dachgesimses, dazu Skulpturen und andere Schmuckelemente, die überdimensioniert erscheinen. Im Hintergrund weit unten die Straße mit winzig wirkenden Fahrzeugen und menschlichen Gestalten. Die linke Bildhälfte nehmen die Ruinen der schwer umkämpften Hauptsta
menschlichen Gestalten. Die linke Bildhälfte nehmen die Ruinen der schwer umkämpften Hauptstadt des Nazi-Reichs ein, am Horizont Rauchschwaden, die an vielen Stellen noch eine brennende Stadt. Am folgenden Morgen wurde die Flagge von einem deutschen Scharfschützen heruntergeschossen Die Symbolkraft dieses Fotos ist kaum zu überschätzen. Die Härte und Grausamkeit dieses Krieges gegen einen erbarmungslosen Feind, die Zerstörungen und Verluste an Leben und Kultur, ein Gefühl des Triumphs bei denen, die unter unbeschreiblichen Opfern gesiegt haben – das alles ist in diesem Bild. Der sowjetische Kriegsfotoreporter Jewgeni Chaldej nahm es am 2. Mai 1945 in Berlin auf. Zum ersten Mal gedruckt wurde es am 13. Mai in der Moskauer Zeitschrift Огонёк (Flamme), die noch bis 2021 erschien. Seither ist es als Stockfoto unzählige Male zu Artikeln und in Publikationen über das Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht worden. Es hat die Wahrnehmung des Kriegsendes vor allem in Ost-, aber auch in Westeuropa geprägt. Von der symbolischen Botschaft her ist es sicher noch bedeutungsvoller als „Raising the flag on Iwo Jima“ des amerikanischen Kriegsreporters Joe Rosenthal, aufgenommen im Februar 1945 im Pazifischen Krieg. Placeholder image-3Wie dieses wird auch Chaldejs Motiv heute oft als inszeniert hingestellt. Der fotografierte Moment sei kein authentisches Geschehen gewesen, sondern nachgestellt worden. Aber das Hissen einer Flagge als Zeichen des Sieges über einen Feind wird immer zur symbolischen Inszenierung. Sowjetische Soldaten hatten bereits am späten Abend des 30. April 1945 noch während der Kämpfe im Reichstag und seinem Umfeld eine Flagge auf dem Gebäude gehisst, das für sie das faschistische Deutsche Reich symbolisierte wie kein anderes. Das geschah in der Dunkelheit, und ein Fotograf war nicht dabei. Die Kämpfe in Berlin waren noch im vollen Gange, im Reichstagsgebäude deutsche Soldaten, die nicht aufgeben wollten. Am folgenden Morgen wurde die Flagge von einem deutschen Scharfschützen heruntergeschossen. Gleich nach der Kapitulation Berlins am 2. Mai stieg Jewgeni Chaldej mit drei Soldaten auf das Dach und fotografierte, wie sie die von ihm mitgebrachte Fahne hissten. Er verbrauchte einen ganzen Film und nahm 36 Bilder auf. Bei der erstveröffentlichten Aufnahme steigerte Chaldej die Wirkung, indem er zusätzliche Rauchschwaden in den Hintergrund montierte. Außerdem wurde er angewiesen, etwas, das wie eine zweite Armbanduhr aussah, vom Handgelenk eines beteiligten Soldaten wegzuretuschieren. Diese zweite Uhr war möglicherweise ein Armbandkompass, den Soldaten zur schnellen Orientierung bei Truppenbewegungen benutzten. Man wollte damit einen scheinbaren Hinweis auf Plünderungen durch sowjetische Soldaten entfernen. Placeholder image-2„Die Angst vor der Kamera ist blind, und sie sitzt tief“, schreibt John Steinbeck Im Vergleich zur Berühmtheit des Fotos gehörte sein Schöpfer nicht zu den renommierten Fotografen seiner Zeit. Ganz anders als sein berühmter Kollege, der „Life“-Reporter Robert Capa, der mit Henri Cartier-Bresson und anderen die internationalen Foto-Agentur „Magnum“ gegründet hatte, die noch heute besteht und genossenschaftlich organisiert ist. Capa fotografierte im spanischen Bürgerkrieg, bei der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, später im Indochina-Krieg, wo er ums Leben kam.Capa und Chaldej lernten sich nach dem Krieg während der Potsdamer Konferenz Anfang August 1945 kennen. Diese Begegnung mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass Capa etwas später mit dem Schriftsteller John Steinbeck die „Russische Reise“ durch die Sowjetunion unternahm. 1948 erschien dann in New York der mit Capas Fotos illustrierte Reisebericht A Russian Journal von John Steinbeck. Sie sahen das zerstörte Land und besuchten Kolchosen sowie Fabriken. Steinbeck würdigt in seinem Text die Anstrengungen zum Wiederaufbau einer Traktorenfabrik bei Stalingrad, die kaum weniger heroisch erscheinen als die Verteidigung des Werkes durch seine Arbeiter gegen die Zerstörungswut der Deutschen. Aber fotografieren durfte Capa hier nicht. Steinbeck schreibt „von einem Schrecken, den die Kamera auslöst“. Und: „Die Angst vor der Kamera ist blind, und sie sitzt tief.“ Placeholder image-4Die Kehrseite des Schreckens ist die Faszination, die ein hoch symbolträchtiges und bedeutungsvolles Bild wie die Flaggenhissung am 2. Mai 1945 auf dem Reichstag hat. Wirkung, die stolz macht, ebenso eine Wirkung, die Befürchtungen weckt. Das Wegretuschieren der zweiten Armbanduhr, die wahrscheinlich ein Armkompass war, war womöglich eine Reaktion der Furcht vor einer eventuellen Wirkung. Capa und Steinbeck hätten ihren Bericht über den sowjetischen Alltag in den Jahren nach dem verheerenden Krieg auch mit Chaldejs Fotos illustrieren können. Er ist ein Berufsleben lang in allen Republiken der Union unterwegs. Sein Lebenswerk bietet Bildmaterial zu einer sowjetischen und postsowjetischen Alltagsgeschichte von den 1930er Jahren bis zu seinem Tod 1997.In der Kriegszeit zwischen 1941 und 1945 entstehen nicht nur die gewünschten symbolträchtigen Aufnahmen – Porträts von Helden, die Dokumentaraufnahmen von Siegesparaden, von der Konferenz in Potsdam und vom Nürnberger Prozess. Das Unglück, das der Krieg für die Menschen bedeutet, zeigen die Fotos von dem Moment, als die Moskauer an einem schönen Junitag vom Überfall der deutschen Wehrmacht erfahren.Oder die Aufnahmen von deutschen Zivilisten, die kurz vor Kriegsende auf Parkbänken sitzend, Suizid begangen haben. Mitleidlos spricht Chaldej über die „Dummköpfe“, die „mit Schnauzbart und dem schrägen Scheitel“ immer noch wie ihr Vorbild aussehen wollten. Manche von ihnen werden von Rotarmisten erschossen. Eines von Chaldejs Foto vom Mai 1945, das einen Leichnam zeigt, heißt „Der falsche Hitler“. Eine Aufnahme mit Rotarmisten, die vor einem brennenden Wohnhaus über eine auf der Straße liegende Hakenkreuzfahne hinweg marschieren, kommentiert er so: „Das Haus habe ich angesteckt, weil da der Kommandant des Konzentrationslagers wohnte.“Die offizielle Ukraine gedenkt 2025 nur der ukrainischen Opfer der deutschen Aggression„Ich bin ein sowjetischer Mensch.“ – Ein Satz aus Jewgeni Chaldejs Kriegstagebuch. Aufgeschrieben am 30. April 1945 in Berlin. Die deutsche Frau, zu der er ihn sagte, antwortete: „Das kann nicht sein, Goebbels hat gesagt, in Berlin sind keine Russen.“ Menschen aus der Sowjetunion waren und blieben für viele Deutsche „Russen“. Chaldej war Sowjetmensch, Ukrainer und Jude. Von den drei Soldaten, die ihn auf das Dach des Reichstags begleiteten, wo sie die rote Fahne mit dem Sowjetstern, mit Hammer und Sichel aufpflanzten, stammte einer aus Kiew, einer war Russe, der dritte soll ein Georgier gewesen sein. In einigen Berichten wird dies allerdings als Festlegung Stalins wiedergegeben, der selbst Georgier war. Placeholder image-6Die offizielle Ukraine gedenkt 2025 nur der ukrainischen Opfer der deutschen Aggression. Sie feiert den Anteil, den ukrainische Truppen der Roten Armee an der Niederschlagung des deutschen Faschismus hatten, als patriotische ukrainische Leistung. Die einstigen Rotarmisten aus Kiew sind heute keine Sowjetbürger mehr, sondern nur noch Ukrainer. Das ehemalige Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Kiew, eröffnet 1974 zum Gedenken an den sowjetischen Verteidigungskrieg gegen die deutschen Invasoren, soll zu einem Museum der Geschichte des Kampfes um nationale Unabhängigkeit umgestaltet werden. Die entsprechende ex-sowjetische Institution in Moskau vertritt die Auffassung, dass der russisch-ukrainische Krieg heute eine Fortsetzung des Krieges gegen den Faschismus sei. Die russische Regierung hat dazu eingeladen, den 80. Jahrestag der Niederschlagung des deutschen Faschismus am 9. Mai in Moskau zu begehen. Von den europäischen Staatschefs sind für die Slowakei Robert Pico und für Serbien Alexander Vucic dabei. Die ukrainische Regierung dagegen plant für den 9. Mai ein Treffen europäischer Staatschefs und der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas in Kiew. So schlägt man sich auf die Seite eines nationalistischen Antagonismus‘, um gegen den jeweils anderen positioniert zu sein. Das bestätigt beide Seiten in ihrer unversöhnlich nationalistischen Weltsicht. Niemand – weder Russland noch die Ukraine – können für sich beanspruchen, Alleinerbe der historischen Leistung der Sowjetunion zu sein, als sie den deutschen Faschismus zerschlug. Ob man am 9. Mai nach Moskau oder nach Kiew reist, kann als Ausdruck von Parteinahme gedeutet werden, ist es aber nicht unbedingt und schon gar nicht im jedem Fall. Darin spiegeln sich Interessenlagen mehr als aufrichtige Gesten des Gedenkens und der Dankbarkeit für eine große historische Leistung. Der Sowjetmensch und ukrainische Jude Jewgeni Chaldej und sein Werk passen da nicht mehr so recht hinein.