Um uns von unseren neuen technofeudalen Herren zu befreien, müssen wir denken wie Karl Marx. Die Konzerne wollen uns und unsere Gehirne ausschlachten – wir müssen uns die Kontrolle zurückholen


Statue auf der Spreeinsel in Berlin: Karl Marx hat immer noch glänzende Ratschläge parat

Foto: Paul Glaser/picture alliance


Eine junge Frau sagte kürzlich zu mir, weniger die Existenz des reinen Bösen mache sie wahnsinnig wütend, als Leute und Institutionen, die Gutes tun könnten, aber stattdessen am Ende der Menschheit schaden. Ihre Überlegungen erinnerten mich an Karl Marx, dessen Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus genau das betraf. Er störte sich weniger daran, dass das kapitalistische System ausbeuterisch ist, sondern dass es uns entmenschlicht und entfremdet, obwohl es eigentlich eine so progressive Kraft ist.

Vergangene Gesellschaftssysteme mögen ungerechter oder ausbeuterischer gewesen sein als der Kapitalismus. Aber nur im Kapitalismus ist der Mensch so vollständig von seinen Erzeugnissen und seiner Umwelt entfremdet, so sehr von seiner Arbeit abgekoppelt und

Übersetzung: Carola Torti

n und seiner Umwelt entfremdet, so sehr von seiner Arbeit abgekoppelt und so sehr eines Mindestmaßes an Kontrolle über sein Denken und Handeln beraubt. Kapitalismus, vor allem, nachdem er in seine technofeudale Phase eingetreten ist, hat uns alle in eine Version von Caliban oder Shylock verwandelt – Monaden in einem Inselreich von isolierten Subjekten, deren Lebensqualität in umgekehrtem Verhältnis zur Fülle der technischen Spielereien steht, die unsere modernen Geräte produzieren.Junge Leute spüren die Entfremdung, von der Marx sprach Diese Woche werde ich neben vielen anderen Politikern, Autoren und Denkern auf dem Marxismus-Festival 2025 in London sprechen, und eine der Fragen, die mich beschäftigt, ist, dass junge Leute heute deutlich diese von Marx identifizierte Entfremdung spüren. Aber der Backlash gegen Immigranten und Identitätspolitik – ganz zu schweigen von der algorithmischen Verzerrung ihrer Stimmen – lähmt sie. Um dieser Lähmung zu begegnen, kann Marx ins Spiel kommen: mit einem guten Rat, der unter dem Sand der Zeit begraben liegt.Nehmen wir das Argument, dass Minderheiten in westlichen Ländern sich anpassen sollten, damit wir nicht zu einer Gesellschaft der Fremden werden. Mit 25 Jahren las Marx ein Buch von Otto Bauer, einem Denker, den er schätzte. Bauer plädierte darin dafür, dass für deutsche Juden die Voraussetzung für die deutsche Staatsbürgerschaft sein solle, dass sie sich vom Judentum lossagen.Marx war außer sich. Der junge Marx hatte eigentlich keine großen Sympathien für das Judentum oder irgendeine andere Religion. Seine leidenschaftliche Zerstörung von Bauers Argumenten liest sich dennoch großartig: „Gibt der Standpunkt der politischen Emanzipation das Recht, vom Juden die Abschaffung des Judentums und vom Menschen die Abschaffung der Religion zu verlangen? … Genauso wie der Staat evangelisiert, wenn … er eine christliche Haltung gegenüber den Juden einnimmt, so agiert der Jude politisch, wenn er, obwohl Jude, Bürgerrechte einfordert.“Marx hätte ein paar Gegenargumente für die heutigen RechtspopulistenDer Trick, den uns Marx hier lehrt, ist ein Engagement für die Religionsfreiheit von Juden, Muslimen, Christen und so weiter mit der generellen Ablehnung der Annahme zu verbinden, dass in einer Klassengesellschaft der Staat das allgemeine Interesse repräsentieren kann. Ja, Juden, Muslime, Menschen mit einer Religion, die nicht die unsere ist – auch wenn wir sie nicht besonders mögen –, müssen sofort emanzipiert werden. Ja, Frauen, Schwarze und LGBTQ+-Personen müssen gleiche Rechte bekommen – lange, bevor eine sozialistische Revolution am Horizont erscheint. Aber Freiheit braucht sehr viel mehr als das.Ein weiteres Minenfeld für junge Leute von heute ist das Argument, dass zugewanderte Arbeitskräfte die Löhne der einheimischen Arbeiter drücken. Ein Brief, den Marx 1870 an zwei Mitstreiter in New York City schickte, kann brillante Hinweise nicht nur darauf geben, wie auf die Nigel Farages/Rechtspopulisten der Welt reagiert werden muss, sondern auch auf einige Linke, die am Köder der Einwanderungsgegner angebissen haben.In seinem Brief räumt Marx voll und ganz ein, dass amerikanische und englische Arbeitgeber die billigen irischen Einwanderer absichtlich ausbeuten, sie gegen die einheimischen Arbeiter ausspielen und die Solidarität der Arbeiter schwächen. Marx hielt es aber für selbstzerstörerisch für die Gewerkschaften, sich gegen die irischen Einwanderer zu wenden und eine einwanderungsfeindliche Narrative zu vertreten. Nein, die Lösung war nie, die migrantischen Arbeiter aus dem Land herauszuhalten, sondern sie zu organisieren. Und wenn das Problem die Schwäche der Gewerkschaften ist oder fiskalpolitische Sparmaßnahmen, darf die Lösung niemals sein, Arbeitsmigranten zum Sündenbock zu machen.Marx‘ Rat: Lasst euch nicht auseinanderdividieren! Apropos Gewerkschaften: Auch für sie hat Marx glänzende Ratschläge parat. Ja, es ist entscheidend, Löhne und Gehälter zu erhöhen, um die Ausbeutung der Arbeiter zu reduzieren. Aber niemand sollte auf die Fantasie von gerechten Löhnen hereinfallen. Der einzige Weg, die Arbeitswelt fair zu machen, ist ein irrationales System abzuschaffen, das auf einer strengen Trennung basiert, nämlich zwischen denen, die arbeiten, aber nicht besitzen, und der winzigen Minderheit, die besitzt, aber nicht arbeitet.Mit den Worten von Marx: „Gewerkschaften funktionieren gut als Zentren des Widerstands gegen die Übergriffe des Kapitals“. Aber sie „versagen generell, weil sie sich selbst auf einen Guerrilla-Krieg gegen die Auswirkungen des bestehenden Systems beschränken, anstatt auch zu versuchen, es zu verändern.”Aber wie zu verändern? Hin zu einer neuen Unternehmensstruktur basierend auf dem Prinzip von „ein Mitarbeiter-ein Anteil-eine Stimme“. So sieht eine Agenda aus, die junge Menschen wirklich inspirieren kann, die sich nach Freiheit sehnen, sei es vom Staatswesen oder von Unternehmen, die durch die Gewinne privater Kapitalbeteiligungsgesellschaften oder eines abwesenden Eigentümers angetrieben werden, der vielleicht nicht einmal weiß, dass er oder sie einen Teil des Unternehmens besitzt, für das die jungen Leute arbeiten.Was hätte Marx von unseren Smartphones gehalten?Zuletzt zeigt sich Marx’ Aktualität, wenn wir versuchen, die technofeudale Welt zu verstehen, in die uns Big Tech gemeinsam mit Big Finance und unseren Staaten heimlich eingekapselt haben. Um zu verstehen, warum das eine Form des Technofeudalismus ist, etwas viel Schlimmeres als Überwachungskapitalismus, müssen wir uns vorstellen, was Marx von unseren Smartphones, Tablets und so weiter gehalten hätte. Wir müssen sie als eine Mutation des Kapitals – oder „Cloud-Kapital“ – denken, das direkt unser Verhalten verändert.So lässt sich verstehen, wie atemberaubende wissenschaftliche Durchbrüche, fantastische neuronale Netze und die Vorstellungskraft übertreffende KI-Programme eine Welt geschaffen haben, in der Privatisierung und privates Beteiligungskapital den gesamten materiellen Reichtum um uns herum wegnehmen, während sich das Cloud-Kapital daran macht, unsere Gehirne zu seinem Gewinn auszuschlachten.Nur durch die Brille von Marx können wir es wirklich verstehen: Herr über unseren individuellen Geist zu bleiben, ist nur möglich, wenn wir das Cloud-Kapital kollektiv besitzen.

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Von Veritatis

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