Unser Kolumnist besucht einen Kiewer Badesee und trinkt mit dortigen Militärs. Ein episodischer Bilderbogen


Aus der Ferne ist der Krieg hier nicht zu sehen: Ein junger Mann blickt aus dem Vechnoi Slavy Park über Kiew

Foto: Oleksii Chumachenko/Zuma Press/picture alliance


Das erste Bild ist kein Bild: Man sieht den Krieg nicht in Kiew. Gewiss beherrschen Fahnen, Murals und Plakate zu Ehren der gefallenen und kämpfenden Soldaten den öffentlichen Raum. Man sieht allerorten Werbung für das Asow-Regiment, verwaiste Rekrutierungsbüros und einen nie endenden Reigen von Uniformierten in den treffend so bezeichneten „Einheitsnachrichten“ der Fernsehsender. Kriegszerstörte Gebäude aber bemerkt man beim zufälligen Durchfahren der ukrainischen Hauptstadt kaum.

Häuser, wie den am 24. April getroffenen Sowjet-Wohnblock in Obolon (Donald Trump damals zu den 14 Toten: „Wladimir, STOPP!“) müsste man gezielt suchen. Kiew wird privilegiert von westlicher Luftabwehr beschützt. Da die in die EU geflohene

geflohene Bevölkerung ihre Wohnungen oft an Binnenvertriebene aus frontnahen Gebieten vermietet, dürfte die Vorkriegsbevölkerung von drei Millionen wieder erreicht sein.In Kiew lässt es sich leben, doch sind mehrmals die Woche Verletzte, manchmal auch Tote zu beklagen. In der Nacht meiner Abreise werden Menschen im zentralen Bezirk Schewtschenko von abgeschossenen Drohnenteilen getroffen. Besonders Frauen würden wegen des Luftalarms kaum eine Nacht durchschlafen, hört man. Mein Schlaf ist zu fest.Zweites Bild: Der „Weidensee“ im nördlichen Plattenbaumassiv Obolon, ab 2002 zwölf Sommer lang meine Urlaubsdestination, ist unerwartet aufgehübscht. Am Strand neue Umkleidekabinen und schattenspendende Dächer, die Vorgärten zwischen den Eingängen meines damaligen Urlaubs-Plattenbaus sind eine einzige Gartenschau. Eines Abends bricht ein langes, mäanderndes Gewitter los. Trotzdem pfeift der Schiedsrichter das U15-Match im runderneuerten Kiez-Stadion an.Überhaupt nehmen die Leute die Sturmböen erstaunlich gelassen hin. Als würden sie sich sagen: Die Naturgewalt ist berechenbarer als der Russe. Nach dem Ende von Wind und Regen bin ich irgendwann nicht mehr sicher, was das orangene Aufleuchten im Osten bedeutet. Ich frage Anwohner „Entschuldigung, ich bin zum ersten Mal seit Kriegsbeginn in Kiew, ist das ein Blitz oder sind das Bomben?“ Die jungen Leute antworten entspannt: „Nur ein Blitz.“Drittes Bild: Mehr denn je ist Innenkiew hell und heiter, Außenkiew dunkel und bedrückt. In Lisowa, an der östlichen Endstation der Metro, wo stämmige Matronen die Fahrtrouten wartender Pendlerbusse in die Vorstadt Browary herausschreien, lächelt niemand. Im zentralen Quartier Podil hingegen stehen zwar Stromgeneratoren auf dem Bürgersteig, aber ansonsten ist Kiew hier so fein, so feminin, so originell, so ätherisch und allumarmend wie noch nie: hyperhipsteristischer Kaffeekult, lächelnd händchenhaltende Mädchen, über Notebooks gebeugte Hohepriesterinnen der Creative Industries.Im Herbst ist SchlussViertes Bild: die Partymeile auf der Dnipro-Insel Hydropark. Nachtleben im engeren Sinne gibt es nicht, wenn um 22.39 Uhr die letzte Metro fährt und zur Ausgangssperre um Mitternacht alle zu Hause sein müssen, aber drei der einst zwanzig Tanzlokale haben geöffnet. Die Livemusik, zu der spätsowjetisch Sozialisierte beim armenischen Schaschlyk-Grill tanzen, war früher russische Estrada. Im Krieg ist das nun so tabu, wie ein Gespräch mit Unbekannten auf Russisch zu beginnen, geschweige denn russisch zu singen. Englisch ist für das postsowjetische Tanzbein keine Option, neuere Nummern als Bahama Mama und Daddy Cool würden die Tanzfläche leerfegen. Die Lösung findet sich: Der Schaschlyk-Armenier lässt usbekische Dancefloor-Estrada singen. Im Tanzschuppen nebenan geht eine noch radikalere Lösung auf: Der DJ brüllt „Aserrrbaidschschan!“ zu Aseri-Pop.Fünftes Bild: Wie jedes Mal in der Kriegsukraine vergehen nur wenige Stunden, bis ein ukrainischer Militär mit mir trinken will. Diesmal ist das ein Offizier mit 27 Dienstjahren, seit dem Kampf um das ostukrainische Slowjansk 2014 im Kampfeinsatz. Eigentlich dürfe er wegen der Antidepressiva nicht trinken, die man ihm gegen den immer gleichen Albtraum verschrieben habe: Obwohl er wegen eines glücklichen Zufalls nicht bei seiner Einheit war, sieht er jede Nacht die aufgerissenen Leiber seiner Kameraden, die in Stunde fünf der russischen Invasion fielen.Sein Sold, erzählt er, ermögliche Frau und Kindern ein sicheres Leben in den Bergen. „Und in Kiew ist nicht Krieg!“ Der ethnische Russe äußert sich distanziert über die Führung des Landes, „Politiker machen Politik und Soldaten sterben, dieser Scheißkrieg geht noch drei Jahre weiter.“ Er sagt voraus, dass zwei Generationen von Ukrainern und Russen einander hassen werden, die dritte aber bewundert er schon jetzt dafür, dass sie „alles vergessen wird“ und versöhnt mit dem Nachbarn zusammenlebt.Ich nenne bewusst keine Details über den Offizier und den Ort unseres Treffens. Obwohl ich ihn anflehe, mir keine militärischen Geheimnisse anzuvertrauen, spricht er frei von der Leber weg und führt mich in der Hoffnung auf ein letztes Bier sogar zu einer Geheimunterkunft der Armee. Der unauffällige Bau in dicht besiedeltem Gebiet ist gefüllt mit Soldaten, die für eine zehntägige Schulung in Kiew sind. Gäbe ich mehr preis, könnte ich schuldig werden an einem russischen Raketenschlag.Zum Glück ist die Administratorin des Hostels unerbittlich. Sie blockiert den Zugang, indem sie sich auf die Stufen legt und unbewegt in ihrem dicken rosa Bademantel liegen bleibt. Sie hat hervorquellende Augen, schläft laut eigenen Angaben nie und betet als evangelikale Christin viel. Bevor wir auseinandergehen, berührt sie uns noch mit einer Prophezeiung. „Der Krieg hört im Herbst auf“, sagt das rosa Orakel, „eines Tages, ganz plötzlich, als wäre nichts gewesen.“



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Von Veritatis

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