Der Bundesnachrichtendienst (BND) ist ein Kind des Kalten Krieges. Sein erster Chef Reinhard Gehlen spionierte für Hitler, die Amerikaner und Adenauer. Vor allem hatte er die Befürworter einer Blockfreiheit Deutschlands und die SPD im Visier.

von Helmut Roewer

April 1945: In Berlin tobte der Endkampf des Dritten Reiches. Wer als Deutscher noch Arme und Beine besaß, sollte sich verheizen lassen. Der Volkssturm griff nach jedem, Kinder und Greise eingeschlossen – auf Drückeberger wartete der Strick. Die im Untergangsinferno gefällten Standgerichtsurteile wurden bis heute nicht seriös gezählt.

Ferngesteuert aus Übersee: Die Gründung des BND
Reinhard Gehlen (1943). Foto: Bundesarchiv, Bild 183-27237-0001

Reinhard Gehlen interessierte all dies nicht sonderlich. Der 43-Jährige sorgte sich vielmehr um seinen nächsten Karrieresprung. Als Generalmajor war er seit 1942 Chef der Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) im Generalstab des Heeres. Unter dem sperrigen Namen verbarg sich ein Militärgeheimdienst, der die Verhältnisse in der Sowjetunion und der Roten Armee zu beurteilen hatte. Doch kurz vor dem apokalyptischen Ende des Tausendjährigen Reiches drohte dem Spionage-Chef Ungemach. Seinem Führer hatte er eine sichere Schwächung der Roten Armee prophezeit, das Tagebuch des Wehrmachtsführungsstabes dokumentiert diese Weissagung. Doch den Kanonendonner der Roten Armee konnte man im Führerbunker nicht überhören: Stalins Krieger waren gerade rund um Berlin in Angriffsstellung gegangen. Die Folge: Gehlen verlor seinen Posten an der Spitze der FHO.

Akten für die Amerikaner

Nach einem Fronterlebnis in den Trümmern der Reichshauptstadt stand dem umtriebigen Schattenkrieger jedoch nicht der Sinn. Ihn zog es nach Süden, wo – soviel war sicher – bald das Sternenbanner der Amerikaner wehen würde. Zu diesem Zweck stellte er sich und einigen Getreuen einen gefälschten Marschbefehl aus. Aus Zossen im Süden von Berlin, wo Teile des Oberkommandos des Heeres residierten, eilte er mit Hilfe einiger Holzgas-Lkw in Richtung Süddeutschland. Diese Flucht ließ sich vortrefflich mit dem Hinweis tarnen, man befände sich auf dem Weg in die sagenumwobene Alpenfestung.

Auf den Lkw befanden sich die Akten über die Sowjetunion.

Doch diese letzte Verteidigungslinie im Hochgebirge, in dem sich Hitlers letzte Getreue einen monatelangen Endkampf mit den Alliierten liefern sollten, gab es gar nicht. Gehlen kam der Glaube daran zupass, so konnte er seine Absicht besser tarnen: Er wollte alles andere als kämpfen, er wollte sich verstecken und im geeigneten Moment überlaufen. Das tat er, nachdem die Waffen schwiegen.

Ferngesteuert aus Übersee: Die Gründung des BND
Russen waren für Gehlen nicht nur Objekt der Spionage: Dieses Bild zeigt den Agentenchef mit einem Offizier der Russischen Befreiungsarmee (ROA) – besser bekannt als Wlassow-Armee –, die ab November 1944 auf deutscher Seite kämpfte.

Natürlich erschien der Generalmajor nicht ohne Morgengabe bei seinen neuen besten Freunden. Auf seinen Lkw befand sich eine wertvolle Fracht, es waren die Akten der FHO über die Sowjetunion. Er kalkulierte, dass im mächtigen und siegreichen Amerika der Bedarf für dieses papierne Wissen groß sein würde, sobald sich das Zweckbündnis zwischen Uncle Sam und Onkel Joe – Stalins Spitzname – dem zu erwartenden Ende näherte. Während des Krieges hatten die USA ihren sowjetischen Verbündeten nicht ausspioniert und daher nun schlicht keine Ahnung, was zwischen Brest-Litowsk und Wladiwostok vor sich ging – diese Wissenslücke konnte und wollte Gehlen füllen.

Aus der amerikanischen Org. wurde der BND.

Doch auch das Glück war auf der Seite des Überläufers. Im 1942 aus dem Boden gestampften Kriegsgeheimdienst Office of Strategic Services (OSS) gaben sich ganze Heerscharen der linksgestrickten amerikanischen Ostküstenschickeria ein Stelldichein. Solcherlei Publikum hätte sicher wenig Verwendung für einen «Nazi general» à la Gehlen gehabt. Doch Gehlen traf auf die G2, die Abteilung für Feindaufklärung in der US-Army, deren Chef der glühende Antikommunist Charles Willoughby war. In dieser Gesellschaft spielte Gehlens Vergangenheit keine Rolle. Desinteressiert an politischen Vorlieben sah man einzig den hochrangigen Informanten. So sammelten die Amerikaner alles, was die ehemalige FHO zu bieten hatte, und transportierten es diskret per Luftfracht in die USA. Die Rechnung des Überläufers ging auf: Tatsächlich verwandelte sich das warme Lüftchen der sowjetisch-amerikanischen Kriegskameraderie binnen Kürze in den kalten Wind des Ost-West-Konflikts.

Neuer Job für alte Kumpel

Gehlen und seine Leute waren so klug, den Amerikanern klar zu machen, dass in ihren mitgebrachten Kisten nur die Hälfte der Beute sei. Was komplett fehlte, waren die ehemaligen, jetzt stillgelegten Agentennetze in der Sowjetunion sowie Informationen über die Kundschafter und deren Führungskräfte. Gehlen ließ nichts unversucht, um den Wert dieser Netze aufzubauschen. Doch mit dem Ende des Krieges hatten sich die deutschen Geheimdienste aufgelöst. Ihre Informanten waren ohne Kontakt, teils in alle Winde zerstreut. Dieses Puzzle wieder zusammenzusetzen, war die Voraussetzung, sollte die Feindaufklärung fortgeführt werden. Die alten Spione erst namhaft zu machen und dann zu rekrutieren, sagte der clevere Gehlen zu. Voraussetzung sei allerdings eine eigenständige deutsche Organisation, mit der er, ungehindert von der alliierten Strafverfolgung möglicher Kriegsverbrecher, die notwendigen vertraulichen Beziehungen knüpfen können müsste. Er ließ keinen Zweifel daran, dass nur er der richtige Mann an der Spitze dieser Organisation sein könnte. Die Amerikaner waren einverstanden und es entstand die Org., auch Org. G. oder Org. Gehlen genannt. Es war ein Spionage- und Auswertedienst, der alsbald sein Quartier hinter den Mauern einer ehemaligen NS-Liegenschaft in Pullach bei München bezog und unter amerikanischer Kontrolle und mit amerikanischen Dollars seine Tätigkeit begann.

Ferngesteuert aus Übersee: Die Gründung des BND
Gehlen als Kriegsgefangener der US-Armee.

Es war der Blick hinter den Eisernen Vorhang, den man der Org. zutraute, und an dem kaum jemand etwas auszusetzen fand, der damals im westlichen Lager stand. Doch das war bei Weitem nicht alles, was man da im amerikanischen Auftrag in der Org. trieb. Ein wesentlicher Zweig war das Einsammeln der alten Wehrmachtsstrategen. Bevorzugt wurden alte Kumpel aus dem Oberkommando des Heeres, dem der FHO unterstanden hatte. Diese erstellten ab sofort, sorgsam abgeschirmt von der Öffentlichkeit, für Uncle Sam Expertisen über künftige Feldzüge der US-Armee und ihrer Verbündeten gegen die Sowjetunion. Die Auftraggeber im Pentagon kalkulierten ganz nüchtern: Die Deutschen waren schon einmal bis vor Moskau und in den Kaukasus marschiert. Sie würden das auch ein zweites Mal schaffen.

Spitzeln für die Westbindung

Doch die Organisation Gehlen hatte noch ein weiteres Betätigungsfeld. Ungeniert betrieb sie im amerikanischen Auftrag auch Inlandsspionage in den Westzonen und der frühen Bundesrepublik. Die Zielpersonen für derartigen Aufklärungsfleiß waren zunächst die Neutralisten, also Leute, die einen eigenständigen deutschen Kurs propagierten, weil sie einen Ost-West-Konflikt auf deutschem Boden für einen Albtraum hielten. Hinzu kamen jene Deutschen, die der 1949 in Bonn an die Macht gekommenen Regierung von Bundeskanzler Konrad Adenauer oppositionell gegenüberstanden. Dazu zählte vor allem die dezidiert gesamtdeutsch argumentierende SPD unter ihrem ersten Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher. (Die SPD sollte erst 1959 auf ihrem Godesberger Parteitag den Schwenk ins westliche Lager vollziehen. Maßgeblichen Einfluss hatte dabei der frühere Stalinist Herbert Wehner.)

Nach Gründung der Bundesrepublik sollte die Org. den Graubereich unter amerikanischer Patronage verlassen. Parallel zur Wiederbewaffnung 1955/56 verlangte Washington von Adenauer, die Pullacher Spione als einzigen Auslandsnachrichtendienst des westdeutschen Staates zu übernehmen. Der Kanzler hatte keinen großen Spielraum und ließ nach einem Votum aus dem Hause Gehlen den in Koblenz ansässigen Konkurrenzdienst von Friedrich Wilhelm Heinz (FWH-Dienst) plattmachen.

Adenauer ließ den Konkurrenzdienst zum BND plattmachen.

Über diesen Schritt ist viel spekuliert worden. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass Gehlen zwei Dinge besaß, die Heinz nicht bieten konnte: das Vertrauen der amerikanischen Besatzungsmacht und einen vortrefflichen Spitzeldienst gegen die oppositionelle SPD. So wurde am 1. April 1956 aus der amerikanischen Org. nahtlos der dem Kanzleramt unterstehende bundesdeutsche BND. Dieser Schritt beendete die amerikanische Finanzierung. Dass auch die Lenkung beendet worden wäre, darf indessen bezweifelt werden.

Es ist bis heute nicht seriös untersucht, geschweige denn aufgeklärt worden, welchen Einfluss Gehlens amerikanische Hintermänner auf den Umbruch in der SPD am Ende der 1950er Jahre und danach hatten (siehe Infobox). Fest steht lediglich, dass nach dem Amtsantritt von Willy Brandt (SPD) als Bundeskanzler im Jahr 1969 der mühsame Prozess der Entflechtung des BND aus der Innenpolitik begann. Diese Entflechtung ging seltsam lautlos über die Bühne. Auch die SPD wird nicht alles, was sie vorfand, als unproblematisch empfunden haben: Brandts Nachfolger Helmut Schmidt behauptete später von sich selbst, er habe, von einer Ausnahme abgesehen, niemals einen der BND-Chefs empfangen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

🆘 Unserer Redaktion fehlen noch 95.000 Euro!

Um auch 2025 kostendeckend arbeiten zu können, fehlen uns aktuell noch 95.000 von 125.000 Euro. In einer normalen Woche besuchen im Schnitt rund 250.000 Menschen unsere Internetseite. Würde nur ein kleiner Teil von ihnen einmalig ein paar Euro spenden, hätten wir unser Ziel innerhalb kürzester Zeit erreicht. Wir bitten Sie deshalb um Spenden in einer für Sie tragbaren Höhe. Nicht als Anerkennung für erbrachte Leistungen. Ihre Spende ist eine Investition in die Zukunft. Zeigen Sie Ihre Wertschätzung für unsere Arbeit und unterstützen Sie ehrlichen Qualitätsjournalismus jetzt mit einem Betrag Ihrer Wahl – einmalig oder regelmäßig:

🤍 Jetzt Spenden



Source link

Von Veritatis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert