Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
Im Mai 1906 erlebte Thomas Mann als Passagier ein Eisenbahnunglück. Ihm selbst ist dabei nichts geschehen, aber er nahm – wie bei ihm üblich – alle Eindrücke in sich auf, um sie zweieinhalb Jahre später in der kurzen Erzählung „Das Eisenbahnunglück“ zu verarbeiten, in der er unter anderem einen Schaffner beschreibt: „Sieh diesen Schaffner an mit dem Lederbandelier, dem gewaltigen Wachtmeisterschnauzbart und dem unwirsch wachsamen Blick. Sieh, wie er die alte Frau in der fadenscheinigen schwarzen Mantille anherrscht, weil sie um ein Haar in die zweite Klasse gestiegen wäre. Das ist der Staat, unser Vater, die Autorität und die Sicherheit. Man verkehrt nicht gern mit ihm, er ist streng, er ist wohl gar rau, aber Verlass, Verlass ist auf ihn.“
Auch wenn Thomas Mann damals noch Freund des Wilhelminischen Kaiserreiches war, ist doch die Ironie nicht zu verkennen. Der Schaffner als Verkörperung des strengen, aber verlässlichen Staates, des „Vaters“, der über alle wacht und auf den man sich unbedingt verlassen kann – der paternalistische Staat in Reinkultur. Das ist, so sollte man denken, schon lange vorbei, aber in Wahrheit fängt es gerade erst wieder an, und keineswegs langsam und vorsichtig, sondern mit Macht. Der immer totalitärer werdende Staat in Gestalt seiner Regierung will den Bürgern vorschreiben, was sie zu denken, was sie zu essen, auf welche Weise sie sich fortzubewegen haben, und macht es nicht der Staat, so gibt es immer noch die Europäische Union, die das Ihre dazutut.
Seit April 2025 wollen sie uns auch vorschreiben, nach welchen Methoden wir unsere Geldanlagen tätigen sollen. Sie sagen nicht, welche Anlageprodukte der Kunde kaufen soll, das noch nicht, aber sie legen fest, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen eine Geldanlage erfolgen soll und darf. Nicht, dass der Kunde einfach so mit seinem Geld machen kann, was er will, Gott bewahre! Er muss gegenüber der Bank, bei der er seine Anlagen tätigen möchte, nachweisen, dass er auch etwas von den Produkten versteht, in die er investieren will. Es geht ja nur um sein eigenes Geld, da kann man eine Kenntnisprüfung erwarten, während Politiker, die das Geld anderer Leute verschwenden, sich ohne jede Kenntnisprüfung, in der Regel auch ohne jede Kenntnis, ans Werk machen dürfen. „Um die Leitlinie der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA umzusetzen“, liest man zum Beispiel bei flatex, „ist eine Angemessenheitsprüfung notwendig.“ Man sei verpflichtet, „Ihre Kenntnisse und Erfahrungen festzustellen, bevor Sie mit der Geldanlage beginnen“. Wie ja auch ein Gastwirt zu der Feststellung verpflichtet ist, ob sein Gast mit Messer und Gabel umgehen und ein Schnitzel von einem Fußball unterscheiden kann. Das alles diene selbstverständlich nur dazu, „Ihre Interessen als Anleger zu schützen“.
Bei der Merkur Privatbank ist zu vernehmen: „Seit dem 16. April 2025 ist eine Orderaufgabe nur noch nach erfolgreicher Bearbeitung des Fragebogens möglich. Für den erfolgreichen Abschluss des Fragebogens ist die korrekte Beantwortung aller Fragen notwendig.“ Doch muss man nicht bei exklusiven Privatbanken anklopfen, um in den Genuss der „Kenntnisermittlung“ zu kommen, jede der weit verbreiteten Volksbanken tut es auch, denn wo der Europäische Größenwahn zuschlägt, tut er es gründlich. „Sie handeln Wertpapiere oder möchten es zukünftig tun? Dann ist es wichtig, dass wir Ihre Kenntnisse und Erfahrungen im Wertpapierhandel einschätzen können. Nur so ist sichergestellt, dass Sie bei der Anlageentscheidung angemessen informiert sind. Das fordert auch die Europäische Wertpapier- und Aufsichtsbehörde, die dazu eine Leitlinie namens „Angemessenheitsprüfung“ eingeführt hat. Diese Leitlinie ist rechtlich verpflichtend.“
Es ist deutlich genug. Es war nicht die Idee der Banken, eine „Angemessenheitsprüfung“ zu veranstalten, sondern sie beugen sich dem Willen der Eurokraten, deren vorzeitiger Ruhestand bei gleichzeitiger Streichung aller bisherigen Stellen mehr als wünschenswert wäre. Der Ablauf ist der folgende: Jeder Anleger, der irgendein Geschäft tätigen möchte, das mit Wertpapieren zu tun hat, muss sich vorher einer kurzen Prüfung unterziehen; das kann er, sofern er sich für das Online-Banking entschieden hat, zu Hause tun, ansonsten bleibt ihm kaum etwas anderes übrig, als den Weg zur Bank einzuschlagen. Und auch, wenn er bei der Bank seit 30 Jahren Wertpapiere kauft und verkauft – er muss nachweisen, dass er weiß, worum es geht, indem er einige Fragen beantwortet. Es gibt einen Fragenkatalog über „Basiskenntnisse“ und einen über „Erweiterte Kenntnisse“, und je nachdem, mit welchen Produkten man es zu tun hat, muss man entweder nur den ersten Katalog bearbeiten oder beide. Ich betone: Man muss! Die europäische Richtlinie schreibt es vor, obwohl es niemanden in Brüssel, Berlin oder Timbuktu etwas angeht, wie der Kunde sein Geld anlegt oder auch vergeudet, das ist allein seine Sache. Würde er es vollständig in Rotwein investieren – keine schlechte Idee – oder es in den Gully schütten – keine ganz so gute Idee – oder gar dem Staat schenken – da wäre die Idee mit dem Gully noch besser –, fiele niemandem eine Angemessenheitsprüfung ein. Nur wenn er es anlegen will, verlangt Europa einen Nachweis.
Es ist eine Unverschämtheit reinsten Wassers, und wer sich derartige Restriktionen ausdenkt, ist nicht mehr weit von der Idee entfernt, auch zu prüfen, ob die Art der Anlage klimaneutral und gendergerecht ist. Oder wenigstens, ob der Anleger die nötigsten Fragen zur Klimakatastrophe und zum Kampf gegen Rechts korrekt zu beantworten weiß, denn wie sollte er sonst eine verantwortliche Investitionsentscheidung treffen? Daran ändert auch nichts, dass die Fragen streckenweise geradezu beleidigend albern sind und vermutlich den geistigen Habitus der Eurokraten abbilden. Ein Rechtsanwalt hat einige der Fragen publik gemacht. Im Katalog zu den erweiterten Kenntnissen wird beispielsweise gefragt, welche der folgenden Aussagen zu „Basket-Zertifikaten“ zutreffend seien:
- Sie sind an mehrere Einzelwerte oder Indizes geknüpft (sog. „Basket“), die für die Wertentwicklung maßgeblich sind.
- Sie können sich hinsichtlich der Bestandteile des Baskets oder deren Gewichtungen im Basket deutlich unterscheiden (z.B. Rohstoffbaskets vs. Aktienbaskets).
- Sie sind Wertpapiere, deren Wertentwicklung sich am Erfolg von Basketballteams orientiert.
- Ich weiß die Antwort nicht.
Vorgegeben wird dabei, dass zwei der Antworten richtig sind. Da die letzte Antwort nicht richtig sein kann, weil man sonst automatisch durchgefallen ist, und auch die dritte Antwort nicht sehr Erfolg versprechend erscheint, weil ein Papier, das sich am Erfolg von Basketballteams orientiert, ähnlich sinnvoll wäre, wie eine Anlage, die auf der Kompetenz von Ministern beruht, bleiben nur die ersten beiden Antworten übrig – auch wenn man nicht im Entferntesten weiß, worum es sich bei Basket-Zertifikaten handelt. Nicht nur, dass der Test eine übergriffige Einmischung in die Freiheit der Anleger bedeutet, er belegt selbst bei erfolgreichem Absolvieren überhaupt nichts, außer dass man lesen kann.
Und was geschieht, wenn man sich weigert? Wenn also der Kunde sagt, dass er sich auf solche Kindereien nicht einlässt oder gar eine Frage falsch beantwortet? Bei der Volksbank sehen wir die Antwort: „Wenn Sie beratungsfrei ohne Nachweis der relevanten Kenntnisse Finanzinstrumente erwerben möchten, können Sie das. Jedoch müssen wir Sie dann darauf hinweisen, dass die Geschäfte für Sie nicht angemessen sind.“ Die Bank weist auf Basis der europäischen Order den Kunden darauf hin, dass er eine unangemessene Entscheidung trifft. Mehr Unverschämtheit geht nicht – ich wiederhole: Das ist eine Unverschämtheit der europäischen Überzeugungstäter, nicht der jeweiligen Bank.
Wie schon zu sehen war, sind andere Banken mit größerem Eifer dabei, den europäischen Unsinn in die Tat umzusetzen: „Seit dem 16. April 2025 ist eine Orderaufgabe nur noch nach erfolgreicher Bearbeitung des Fragebogens möglich“, ließ die Merkur Privatbank ihre Kunden wissen, nicht einmal dann, wenn die Bank den unbotmäßigen Kunden mit erhobenem Zeigefinger auf die Unangemessenheit seiner Entscheidung hinweist. Übereifrige Vorschriftenakrobaten gab es zu allen Zeiten.
Vor wenigen Jahren schrieb Norbert Bolz: „Der Paternalismus des vorsorgenden Sozialstaates behandelt die Bürger als Kinder, Patienten oder Heiminsassen und verwandelt sie allmählich in fröhliche Roboter und glückliche Sklaven. An die Stelle von Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Der demokratische Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, eine gewaltige, bevormundende Macht, die das Leben der Vielen überwacht, sichert und vergnüglich gestaltet. Die umfassend Betreuten brauchen gar keinen freien Willen mehr und empfinden die totale Vorsorge als Wohltat. Der demokratische Despotismus entlastet sie nämlich vom Ärger des Nachdenkens genauso wie von der Mühe des Lebens.“
So wollen sie uns haben. Und ich fürchte, es wird funktionieren.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: KI
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