Es war einmal – so fangen Geschichten an, die Kinder über Generationen hinweg begleitet, erschreckt, fasziniert und geprägt haben. Heute beginnen sie eher mit einer Triggerwarnung oder enden in der Mülltonne der politischen Korrektheit. Denn Märchen sind zu hart geworden für unsere moderne Gesellschaft – sagen Kritiker. Was früher als symbolisch, lehrreich und kulturprägend galt, wird nun als psychisch belastend, toxisch und sogar gefährlich empfunden. Willkommen in der Zeit, in der Schneewittchen nicht mehr einschlafen darf, ohne vorher ein schriftliches Einverständnis für den Kuss abzugeben.
Gastkommentar von Lothar Renz
„Struwwelpeter“, „Hänsel und Gretel“, „Der Wolf und die sieben Geißlein“ – diese Klassiker stehen plötzlich unter Generalverdacht. Zu grausam, zu autoritär, zu problematisch. Dass Generationen davor damit aufgewachsen sind, ohne bleibende Schäden davongetragen zu haben, spielt keine Rolle mehr. Heute zählt nicht mehr, was eine Geschichte lehrt, sondern wie sie sich anfühlt. Und wehe, ein Kind fühlt sich unwohl – dann wird das Buch gestrichen.
Natürlich will niemand zurück zu Prügelpädagogen und autoritären Lehrmethoden. Aber zwischen dem Rohrstock des 19. Jahrhunderts und dem rosa Watteuniversum von heute gibt es einen riesigen Graubereich, den wir zunehmend ignorieren. Pädagogik soll heute weich, freundlich, möglichst konfliktscheu sein. Nachsitzen gilt als Kindeswohlgefährdung, schlechte Noten als systemisches Versagen. Und Märchen? Die sind zu schrecklich, um Kinder mit ihnen zu „belasten“.
Wölfe im Visier, Hexen auf der Abschussliste
Der böse Wolf ist nicht mehr böse, sondern missverstanden. Die Stiefmutter ist kein Symbol für Eifersucht und Gier, sondern ein frauenfeindliches Klischee. Und Rapunzel? Ihre Rettung durch den Prinzen gilt inzwischen als patriarchales Narrativ. Die Lösung? Umschreiben, streichen, neudeuten. Am besten so lange, bis von der ursprünglichen Geschichte nichts mehr übrig ist – außer einem belanglosen Gleichnismärchen mit moralischem TÜV-Siegel.
Die Filmindustrie macht es vor: Immer mehr Märchenverfilmungen scheitern an der Realität des Publikums, weil sie sich zu sehr vom Original entfernen. Die Neuverfilmung von „Schneewittchen“? Ein Millionenverlust. Der Stoff wurde modernisiert, diversifiziert, sterilisiert – aber eben auch entzaubert. Denn Märchen leben von Ambivalenz. Von Gut und Böse. Von Gefahr und Rettung. Wer diese Kontraste abschleift, erzählt keine Geschichten mehr – sondern liefert pädagogisch wertlose Einschlafhilfe mit wokem Disney-Filter.
Kinder ernst nehmen heißt nicht, sie vor allem schützen zu müssen
Das eigentlich Tragische: Kindern wird damit ein Raum genommen, in dem sie sich mit Ängsten auseinandersetzen können – spielerisch, gefahrlos, aber wirkungsvoll. Märchen bieten seit jeher genau das: Sie konfrontieren mit Schatten, ohne den Schutz des Lichtes zu verlieren. Sie zeigen, dass Böses existiert, aber besiegbar ist. Dass das Leben Herausforderungen stellt – aber auch Hoffnung bereithält.
Wer glaubt, Kindern mit der Entfernung solcher Geschichten einen Dienst zu erweisen, unterschätzt sie gewaltig. Kinder sind klug. Sie können interpretieren, mitfühlen, begreifen – wenn man sie lässt. Wenn man ihnen Werkzeuge an die Hand gibt, um die Welt zu verstehen, statt sie in einem moralischen Schutzbunker zu isolieren.
Märchen sind keine Gefahr – die Angst davor schon
Wir leben in einer Zeit, in der das Streben nach Sensibilität zur neuen Religion geworden ist. Doch wer überall Probleme sieht, wo früher Geschichten erzählt wurden, riskiert nicht weniger als einen kulturellen Kurzschluss. Märchen sind kein überholter Quatsch – sie sind ein Teil unserer kollektiven Reifeprüfung. Sie lehren nicht Gewalt, sondern Konsequenz. Nicht Angst, sondern Mut. Nicht Verzweiflung, sondern Hoffnung.