Alle beteiligten Parteien müssen jetzt auf einen sofortigen Waffenstillstand im Ukrainekrieg drängen. Ein umgehendes Ende des Tötens hat das oberste Ziel zu sein. Das darf nicht durch Verweis auf angeblich noch „zwingend für einen dauerhaften Frieden notwendige“ militärische Maßnahmen verwässert werden. Dieses Gerede ist von beiden Seiten zurückzuweisen. Den Krieg mit Verweis auf „höhere Güter“ noch weiter in die Länge zu ziehen, obwohl es eine Chance auf eine Waffenruhe und darauf aufbauende Verhandlungen gäbe, ist nicht zu rechtfertigen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
Man konnte der Ukraine und ihren westlichen Unterstützern lange vorwerfen, dass sie an einer Waffenruhe und an Verhandlungen nicht interessiert waren. Entsprechende Forderungen wurden von dieser Seite als „russisches Narrativ“ von Putins nützlichen Idioten diffamiert. Vor kurzem träumten schließlich westliche Strategen noch vom Sieg über die russische Armee, sie wollten mutmaßliche taktische Vorteile der Ukraine nicht gefährden und sie wollten Russland nicht durch eine Waffenruhe die Möglichkeit zur Auffrischung des Nachschubs etc. geben.
Ein ähnliches Motiv unterstelle ich nun der russischen Führung für das ablehnende Verhalten gegenüber einem möglichen, von den USA vermittelten Waffenstillstand. Damals wie heute ist diese aus taktisch-militärisch-geopolitischen Gründen erfolgende Kriegsverlängerung scharf abzulehnen, auch von russischer Seite. Denn dadurch sterben weiter Menschen in einem sinnlosen Krieg.
Ein provozierter Krieg
Der Ukrainekrieg wurde von westlicher Seite vorsätzlich von einem Regionalkonflikt zu seinen jetzigen Ausmaßen aufgeladen. Der Krieg wurde vor 2022 vor allem von US-Seite hart provoziert – man wusste, dass durch bestimmte geopolitische Zuspitzungen von westlicher Seite ein militärisches Eingreifen aus russischer Sicht (!) irgendwann „unausweichlich“ erscheinen würde. Die Unterstützung von westlicher Seite zuerst für einen gewaltsamen Umsturz und danach für eine Regierung in Kiew, die seit 2014 den Donbass angegriffen hat und selbst massiv aufrüstete, dieses Verhalten hat den Krieg mit ausgelöst.
Alle dominanten Machtgruppen im Westen haben auf den Krieg hingearbeitet: Mit einer Russland einschließenden Sicherheitsarchitektur und mit Verzicht auf die Aufrüstung einer aggressiven und ultranationalistischen Gruppe in der Westukraine hätte es den Krieg nicht gegeben. Aber: Durch die Vorgeschichte rechtfertigen sich meiner Meinung nach nicht automatisch der drastische Schritt des russischen Einmarschs oder pauschal die Handlungen, die seither vollzogen wurden – nicht von ukrainischer, aber eben auch nicht von russischer Seite. Auch wenn die Floskel vom „unprovozierten Angriffskrieg“ geschichtsloser Nonsens ist, so ist doch auch ein „provozierter“ Krieg scharf zu kritisieren. Jede Chance, das zu beenden, muss ergriffen werden. Und sei es nur kurz: Jeder einzelne Tag, an dem eine Waffenruhe halten würde, wäre dabei sehr zu begrüßen.
Westliche Heuchelei um Waffenruhen
Die doppelten Standards von jetzt plötzlich nach einem Waffenstillstand rufenden Journalisten und Politikern, die vorher eine Waffenruhe diffamiert haben und sie verhindern wollten, solange sie nicht der Ukraine militärisch genutzt hätte, hat Jens Berger gerade in dieser Glosse beschrieben.
Man kann die aktuelle Situation, in der sich westliche Journalisten und Politiker urplötzlich zu Pazifisten gewandelt haben, zutreffend als Heuchelei und auch teilweise als Inszenierung einordnen – als eine Inszenierung, bei der die jahrelangen Kriegstreiber und Kriegsverlängerer und jene, die die ersten Verhandlungen von Istanbul torpediert haben, jetzt mit Forderungen nach einem Waffenstillstand glänzen können. Das ändert aber nichts daran: Russland liefert durch die Nichtakzeptanz der Waffenruhe und durch die gleichzeitigen schweren Angriffe momentan eine Steilvorlage genau dafür und es wird zu Recht kritisiert, denn Kriegsverlängerung ist von keiner Seite zu rechtfertigen.
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