Nach der zweiten Gesprächsrunde der ukrainischen und der russischen Delegation in Istanbul liegen nun die Forderungen beider Seiten auf dem Tisch. Es ist gut, dass man nun endlich wieder miteinander spricht. Hoffnungen auf einen baldigen Waffenstillstand oder gar Frieden sind jedoch nicht angebracht, liegen die Positionen beider Seiten doch meilenweit auseinander. Dabei scheinen gar nicht mal die territorialen Abtretungen das größte Hindernis zu sein. In Fragen einer künftigen NATO-Mitgliedschaft und Sicherheitsgarantien für die Ukraine liegen die beiden kriegsführenden Länder jedoch weiter auseinander denn je. Für Russland sind diese Fragen elementar und die ukrainische Seite ist dafür wohl ohnehin der falsche Verhandlungspartner, da diese Fragen nicht in Kiew, sondern in Berlin, Paris und London entschieden werden. Will man den Krieg alsbald beenden, müssten also die Europäer mit am Verhandlungstisch sitzen. Doch die wollen anscheinend gar keinen Frieden. Der Versuch einer Analyse von Jens Berger.
Nachdem die russische Seite ihr lang angekündigtes Memorandum für einen Waffenstillstand und einen darauffolgenden Friedensprozess im Ukrainekrieg vorgelegt hat, sind westliche Medien außer sich und sprechen von Maximalforderungen der Russen. Das ist zwar nicht einmal falsch, aber hieß es nicht sonst immer, Russland wolle die Ukraine wahlweise als Staat zerstören oder ins russische Reich eingliedern? Nun, zumindest davon ist in den „Maximalforderungen“ nicht die Rede. Dennoch hat das Memorandum es in sich und geht mit seinen Forderungen weit über das „Istanbuler Kommuniqué“ hinaus, das im März/April 2022 Grundlage für die erste Verhandlungsrunde zwischen Russland und der Ukraine war.
Wurden territoriale Fragen damals noch weitestgehend ausgeklammert, verlangt Russland nun die Abtretung der Krim und der vier Regionen Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson und die internationale Anerkennung dieser Gebietsabtretungen. Das ist nicht sonderlich überraschend und entspricht dem derzeitigen Frontverlauf – nur kleinere Teile der vier Regionen sind noch nicht von Russland militärisch besetzt. Auch wenn diese territorialen Forderungen bei der Debatte meist im Mittelpunkt stehen, scheint sich hier ohnehin die normative Kraft des Faktischen durchzusetzen. So ist in den ukrainischen Forderungen in den Istanbuler Gesprächen, die ebenfalls eine Maximalforderung darstellen, auch gar nicht die Rede davon, dass Russland sich aus diesen Gebieten zurückziehen solle. Die Ukraine beharrt jedoch sehr wohl darauf, dass diese territorialen Forderungen von der „internationalen Gemeinschaft“ nicht anerkannt werden dürfen. Abtretungen ohne Anerkennung wären jedoch ein stetiges Pulverfass und würden einer dauerhaften Friedensordnung im Wege stehen. Aber wahrscheinlich ist das ja genau das, was die Falken wollen.
Über eine internationale Anerkennung zu entscheiden, liegt aber freilich nicht in der Macht der Ukraine, was für die Verhandlungen ein weiteres ernstes Problem darstellt. Wie soll die Ukraine über etwas verhandeln, was gar nicht in ihrem Entscheidungsbereich liegt? Nichtsdestotrotz muss man hier wohl zwischen de facto und de jure unterscheiden. Die Ukraine lehnt einen „De-jure-Abtritt“ der Krim und der vier umkämpften Regionen ab, sieht aber die aktuelle Front als Grundlage für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, was man auch als „De-facto-Abtritt“ interpretieren könnte. Wie dem auch sei. Die territorialen Fragen scheinen zumindest kein unüberwindliches Hindernis zu sein – vorausgesetzt, die „internationale Gemeinschaft“ wäre bereit, mit Russland über diese territorialen Fragen zu verhandeln.
Im Vergleich zum „Istanbuler Kommuniqué“ von 2022 sind auch die russischen „Maximalforderungen“ bei kulturellen Fragen weder überraschend noch unerfüllbar. So war beispielsweise die Anerkennung von „Russisch“ als zweiter Amtssprache und der Schutz der russischen Minderheit bereits Teil des 2022er-Kommuniqués, das von der ukrainischen Seite als Verhandlungsgrundlage vorgelegt wurde. Auch das von Russland geforderte Verbot der Verherrlichung und Propaganda von Nationalsozialismus und Neonazismus sowie Auflösung nationalistischer Organisationen und Parteien sollte kein Punkt sein, der die Verhandlungen ernsthaft gefährdet.
Ganz anders sieht es bei den Punkten aus, die Russland als die „Ursache des Konflikts“ sieht und die von beiden Seiten als Sicherheitsinteressen definiert werden. Da wäre zunächst die von der Ukraine angestrebte NATO-Mitgliedschaft. Interessanterweise hatte die Ukraine im „Istanbuler Kommuniqué“ von 2022 von sich aus angeboten, auf die NATO-Mitgliedschaft zu verzichten; was wohl auch der entscheidende Punkt dafür war, dass Russland dieses Kommuniqué als ernsthafte Verhandlungsgrundlage ansah. Seitdem hat sich die Position der Ukraine in diesem Punkt jedoch verhärtet. In ihrem Forderungskatalog zu den aktuellen Verhandlungen besteht die Ukraine auf ihr „souveränes Recht“, der NATO und der EU beizutreten. Russland bezeichnet einen NATO-Beitritt – und sei es nur die Perspektive darauf – in seinem Memorandum zu den Verhandlungen als nicht verhandelbar. Hier prallen die Positionen also frontal aufeinander und sollten beide Seiten in diesem Punkt auf ihrer Linie beharren, werden die Verhandlungen unweigerlich scheitern.
Die russische Position ist in diesem Punkt klar und hier wird es auch kein Jota Verhandlungsbereitschaft geben. Eine Verhinderung der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ist für Russland Kriegsziel Nummer 1. Letztlich waren die NATO-Bestrebungen der Ukraine ja aus russischer Sicht der Grund, warum man 2022 die Invasion in das Nachbarland gestartet hat. Anders sieht es auf ukrainischer Seite aus, wo der NATO-Beitritt (s.o.) bereits in den Verhandlungen zur Disposition gestellt wurde und zurzeit ohnehin illusorisch ist, da US-Präsident Trump einen NATO-Beitritt der Ukraine kategorisch ausschließt – dass Trump seine Positionen wohl häufiger wechselt als seine Unterhosen, ist jedoch auch bekannt, und selbst wenn Trump bei seiner Position in dieser Frage bleibt, ist vollkommen offen, wie seine Nachfolger sich positionieren werden. Hier wäre also die NATO selbst gefragt. Doch innerhalb der NATO gibt es vor allem in Ost- und Nordeuropa zahlreiche vehemente Anhänger einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Wie man diese Klippe im Rahmen eines Friedensprozesses umschiffen will, ist also unklar.
Im Rahmen der ersten Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 war dieser Punkt auch der eigentliche Knackpunkt bei den Verhandlungen. Die Ukraine hat zwar in ihrem Kommuniqué von sich aus auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet, bestand damals jedoch auf nicht näher definierten Sicherheitsgarantien. Derartige Garantien sah Russland damals schon skeptisch. Dass die Ukraine – solange sie noch Rückendeckung und Unterstützung aus Europa erhält – freiwillig auf derlei Sicherheitsgarantien verzichtet, ist jedoch auch extrem unwahrscheinlich. Aber auch dies liegt überhaupt nicht im Entscheidungsspielraum der Ukraine, sondern der Staaten, die die Sicherheit der Ukraine garantieren sollen. Und hier gibt es offenbar gerade in der deutschen Berichterstattung einige Missverständnisse, geht man bei der Debatte doch davon aus, dass hierfür nur „der Westen“ infrage kommt und die Debatte sich eher um die Fragen dreht, ob die Amerikaner denn nun mit dabei sein werden und welche europäische Staaten Truppen wohin entsenden – Großbritannien und Frankreich wollen offenbar dabei sein, Polen will nicht und Deutschland muss das erst politisch klären. Das ist eine seltsame Debatte, da niemand „den Westen“ gefragt hat und es vollkommen auszuschließen ist, dass Russland im Rahmen der Friedensverhandlungen ausgerechnet westlichen NATO-Staaten, die ja als aktiver Unterstützer der Ukraine der – wenn auch indirekte – Kriegsgegner sind, die Stationierung ihrer Truppen in der Ukraine erlauben würde. Das Memorandum lehnt dies kategorisch ab.
Ist hier ein Kompromiss denkbar? Selbstverständlich ist er das. Dann müsste man aber die Frage der Sicherheitsgarantien an ein Gremium übertragen, das sowohl von Russland als auch von der Ukraine anerkannt wird. Dies könnte die UNO sein, dies könnte auch die OSZE sein, wobei Russland aus dem Scheitern von Minsk II sicher seine Lehren zieht, und auf ein Mandat besteht, das nicht vom Westen im eigenen Interesse hintertrieben werden kann. Denkbar wäre es jedoch, BRICS-Staaten wie China oder Indien in die Verantwortung zu nehmen und den NATO-Staaten sowie Russland als Kriegsparteien nur eine untergeordnete Rolle zuzuweisen. Ob Russland einer solchen Lösung zustimmen würde, ist offen. Ob die europäischen NATO-Staaten dem zustimmen würden, ist jedoch ebenfalls nicht sicher. Sie sind es, die derzeit einer Friedenslösung im Wege stehen.
Die USA haben offenbar begriffen, dass dieser Krieg für sie verloren ist, und ziehen sich Stück für Stück zurück. Diese Erkenntnis ist jedoch in Berlin, Paris und London nicht gereift. Ganz im Gegenteil. Diese drei europäischen Staaten sehen im Ukrainekrieg offenbar eine Art Neugeburt Europas und führen eine Schock-Strategie im Sinne Naomi Kleins durch, um Europa zu militarisieren, aufzurüsten und nach einem „verlorenen Jahrhundert“ wieder zu einer Weltmacht zu machen. Das ist jedoch Größenwahn in Reinkultur. Wenn sich dieser Größenwahn durchsetzt, wird Europa ohnehin jeglichen Friedensprozess im Ukrainekrieg torpedieren. Denn nur das Aufrechterhalten einer möglichst schrillen und dauerhaften „Bedrohung“ durch Russland garantiert in den Augen der Falken die Unterstützung der Wiederauferstehung des Militarismus in diesen Ländern.
Aber vielleicht gibt es ja noch Hoffnung und die Falken können sich nicht durchsetzen. Dann müsste Europa aber jetzt in die Verantwortung genommen werden. Wie dargelegt, ist es nicht sinnvoll, wenn nur die Ukraine und Russland in Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen einbezogen werden. Bei den Kernfragen der Verhandlungen kann die Ukraine keine eigenständigen Entscheidungen treffen, da diese Fragen nur in Berlin, Paris und London entschieden werden können. Wenn die Europäer nicht mit am Tisch sitzen, wird es demnach auch keinen Fortschritt bei den Verhandlungen geben können. Der Umkehrschluss ist jedoch auch nicht zulässig. Die Europäer müssen schon den Frieden wollen, um die Verhandlungen voranzubringen.
Was wäre die Alternative? Dass die Ukraine mit Unterstützung des Westens diesen Krieg noch gewinnen kann, ist auszuschließen. Der Krieg ist eigentlich entschieden, die Ukraine hat ihn verloren und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Fronten zusammenbrechen. Heißt dies, dass Russland den Krieg gewinnen wird? Nein. Russland Kriegsziele sind klar definiert. Eine dauerhafte Besetzung der gesamten Ukraine gehört nicht dazu. Und wenn Russland einfach die Kampfhandlungen einstellen würde, wenn es seine territorialen Forderungen militärisch erreicht hat, wäre dies ebenfalls kein Sieg, da die Restukraine immer noch mit westlicher Unterstützung eine militärische Bedrohung direkt vor der Haustür darstellen würde. Die von Russland genannte Ursache für den Krieg wäre also immer noch da.
Die Strategie der europäischen Falken ist also im Grunde eine selbsterfüllende Prophezeiung. Russland wird dann zur Bedrohung, wenn es keinen Frieden gibt. Ihr Mantra war ja ohnehin stets, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen dürfe. Käme es zu einem Friedensvertrag, hätte Russland den Krieg gewonnen, da Russland seine Kriegsziele erreicht hätte. Kommt es zu keinem Waffenstillstand und keinem Frieden, hat Russland den Krieg zwar nicht verloren, aber auch nicht gewonnen und würde wie einst die Sowjetunion in einem andauernden hybriden Krieg á la Afghanistan feststecken. Die europäischen Falken hätten ihre Drohkulisse und könnten ihre Militarisierung fortsetzen. Die Ukraine wäre dann ein Pulverfass und die Gefahr, dass der Krieg über die Grenzen schwappt und zu einem heißen Krieg zwischen Russland und dem Westen wird, wäre groß.
Verhindern ließe sich ein solches Szenario nur durch ernsthafte Friedensverhandlungen, bei denen die Europäer zwingend mit am Tisch sitzen müssen. Die Ukraine weiß, dass sie diesen Krieg verloren hat, und wird bei nüchterner Betrachtung der Lage wohl früher oder später auch erkennen (müssen), dass sie selbst mit den russischen Maximalforderungen leben kann. Sollte es sogar möglich sein, über alte „Blockgrenzen“ hinweg und unter Einbeziehung der neuen Weltmächte aus Asien ein Konzept für Sicherheitsgarantien zu entwerfen, wäre sogar eine dauerhafte Sicherheitsarchitektur für Europa möglich, bei der die Falken nicht ihre Ziele erreichen. Die Weichen dafür werden in den nächsten Monaten gestellt – vielleicht ja sogar in Istanbul.
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