Mehr Arbeitsstunden? Unsere Autorin blickt frühmorgens in müde Gesichter und fragt sich: Wer soll das noch schaffen? Hier erklärt sie, warum die Forderung, dass Mütter auch nur zwei Stunden mehr pro Woche arbeiten sollen, realitätsfremd ist
Mehr Arbeiten, am besten, ohne Forderungen zu stellen: Die Mütter sollen es jetzt richten
Foto: Ferrane Vincent/modds
Sechs Uhr vierzig ist es. Mein kleiner Sohn und ich stehen in der Bäckerei, umgeben von arbeitenden Menschen. Ich bestelle ihm einen Donut und schäme mich dafür. Es kommt mir so dekadent, so ungesund, so peinlich vor, in einer deutschen Bäckerei einen Donut zu kaufen – aber warum verkaufen all die Bäckereien so viele Donuts, wenn es so undeutsch ist? Ich kann nicht die einzige Person in dieser Bundesrepublik sein, die Donuts kauft.
Um uns herum sehe ich in die verbitterten Gesichter der arbeitenden Menschen. Sie sehen müde aus, sie sehen traurig aus, sie sehen wütend aus. Sie sehen erschöpft aus. Sie sehen irgendwie aus, als ob sie nie ein Wort von Karl Marx gelesen haben. Ihre Augen sind voller Elend und ihre Münder hart. Ich verurteile si
urteile sie nicht dafür. Sechs Uhr vierzig, es ist unmenschlich, so früh aufzustehen. Arbeit ist unmenschlich, Arbeit raubt den arbeitenden Menschen ihre Menschlichkeit. Arbeit ist scheiße.Wir laufen schnell zur S-Bahn, mein Sohn redet ununterbrochen. Darüber, was der Unterschied zwischen einer S-Bahn und einer U-Bahn ist. Er will nicht diskutieren, er will nicht kommunizieren, und vor sieben Uhr will ich ihm nichts beibringen. Ich sage ab und zu „ah“ und „oh“ und „mmmh“. Dabei sehe ich mir die Menschen in der S-Bahn an. Niemand sieht so aus, als ob er mehr arbeiten sollte. Absolut niemand.Bärbel Bas: „Jede zusätzliche Arbeitsstunde bringt uns voran“Dabei denkt die SPD-Bundesarbeitsministerin, dass es vor allem Frauen in Deutschland sind, die zu wenig arbeiten. „Jede zusätzliche Arbeitskraft und jede zusätzliche Arbeitsstunde bringt uns voran“, sagte Bärbel Bas der Bild am Sonntag. Wenn die 9,3 Millionen Frauen in Teilzeit ihre Arbeitszeit um zehn Prozent steigern würden – das wären etwa zwei Stunden mehr pro Woche und Frau –, entspräche dies laut Berechnungen ihres Ministeriums etwa einer halben Million zusätzlicher Vollzeitstellen. Thorsten Frei von der CDU, der Kanzleramtsminister, macht sich Sorgen, dass wir „vor lauter Work-Life-Balance“ vielleicht „die Arbeit aus dem Blick verlieren können“. Denn die Pro-Kopf-Arbeitszeit der Deutschen sei in den vergangenen Jahren kontinuierlich nach unten gegangen.Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir die verbitterten Gesichter der Frühaufsteher*innen Deutschlands anschaue. Denn die Wahrheit ist: Ich hasse das Aufstehen, aber meine Arbeit gefällt mir. Ich schreibe gerne, ich lese gerne, ich tue das alles gerne. Aber ich verstehe persönlich nicht, wie ich wirklich mehr arbeiten könnte. Vor lauter „Work-Life-Balance“ habe ich diesen Artikel als alleinerziehende Freiberuflerin am schulfreien Brückentag, am Sonntag und frühmorgens vor der Schule fertig geschrieben. Ich finde, meine „Work-Life-Balance“ ist sehr wackelig, und das, obwohl viele Menschen viel mehr wackeln müssen.Wenn Politiker*innen über „Work-Life-Balance reden“ oder vorschlagen, dass die Menschen in Deutschland, vor allem die Frauen, vor allem die Mütter, vor allem die Alleinerziehenden, mehr Stunden arbeiten sollen, ist es nicht so, dass ich mit ihnen nicht einverstanden bin. Ich höre ihre Sätze und dann erscheinen in meinem Kopf nicht Sätze wie „Eigentlich sollten wir weniger arbeiten“ oder „Ihr spinnt!“ oder „Das ist realitätsfremd!“.Ich habe neulich 100 Euro für den Babysitter ausgegeben, nur um an einem Zoom-Meeting teilzunehmenNein, diese Sätze sind für mich so sehr realitätsfremd, sie haben rein gar nichts mit mir zu tun. Mein Gehirn wird leer, mein Gehirn wird total leer in den Momenten, wenn ich höre, dass Politiker*innen denken, wir sollen mehr arbeiten. Ich soll mehr arbeiten. In den Momenten nach diesen Sätzen merke ich, dass sie den gleichen Effekt haben wie Meditieren. Diese Wünsche sind nicht realitätsfern – sie sind realitäts-außerirdisch. Diese Sätze brechen Realitäten entzwei. Diese Sätze brechen das Universum, in dem wir leben, in zwei Hälften, und holen uns alle in ein anderes Universum, ein Paralleluniversum, das nichts mit diesem hier zu tun hat.Na ja, vielleicht haben sie doch recht. Vielleicht sollten alle Alleinerziehenden, alle Rentner*innen, alle Menschen, die gerade pflegen, mehr arbeiten können. Ich sollte auch 1,66 Meter groß sein statt 1,56, ich sollte meine deutsche Grammatik verbessern und schöne Nägel haben. Während ich diesen Text schreibe (Brückentag!), sitzt mein Sohn im Nebenzimmer und spielt Minecraft. Gut zu wissen, dass Friedrich Merz und Konsorten nicht mehr denken dürfen, dass ich deswegen eine schlechte Mutter bin.Eine alleinerziehende Freundin von mir ist von einer Schwimmmode-Kette gefeuert worden, weil sie nicht bis 20 Uhr arbeiten kann. Eine andere Freundin hat für ein Elterngespräch keine Freistellung von ihrem Chef bekommen. Die Klassenlehrerin hat ihr daraufhin angekündigt, dass ihr Ex-Mann jetzt der gewünschte Ansprechpartner wäre – ihr Ex sieht die Kinder einmal im Monat. Und ich habe neulich 100 Euro für den Babysitter ausgegeben, nur um an einem Zoom-Meeting teilzunehmen, das zeitgleich mit einer Kindergeburtstagsfeier stattfand.Ich würde gerne wissen, ob SPD-Politiker Alleinerziehende einstellen„Isn’t it ironic“ – Wo ist Alanis Morissette, wenn man sie braucht? Ich sitze also an meinem eigentlich freien Tag hier und schreibe einen Text darüber, wo ich feststellen soll, ob Alleinerziehende „zu viel“ oder „zu wenig“ arbeiten. Und mein Sohn spielt Minecraft, statt in irgendeinem Erdbeerhof oder am Tempelhofer Feld herumzuspringen. Merz, Frei und Bas wollen es so. Gut zu wissen.Denn genau jetzt, wo die Kitas so überlastet sind, dass es mit einem Teilzeitjob schwieriger ist als vor zehn Jahren mit einem Vollzeitjob, erwartet man, dass die Alleinerziehenden sich klonen. Eine Frau bleibt zu Hause und passt auf das Kind auf – und die andere geht arbeiten. Denn die Wahrheit ist (und wenn Bärbel Bas nur eine einzige Freundin aus der Arbeiterklasse hätte, würde sie das wissen): Eine 20-Stunden-Woche ist im Jahr 2025 nicht mehr vereinbar mit der Kita- und Hortbetreuungszeit, denn im Spätkapitalismus muss der arbeitende Mensch immer „flexibel“ sein. Die Politiker*innen, die keinen Kontakt zu der Arbeiterklasse haben, können diese Tatsachen, diese Realitäten, übersehen.Ich würde aber gerne wissen, ob SPD-Politiker*innen alleinerziehende Fahrer*innen, Putzkräfte, Sekretär*innen einstellen? Wie viele Behinderte? Wie viele Menschen, die Familienangehörige pflegen? Ich würde gerne wissen, wie Frau Bas reagiert, wenn ihre Sekretärin ihr sagt, dass die Kita morgen zuhat und das Kleinkind mitkommen muss ins Büro – oder sie muss halt einen Tag freinehmen. Ich würde gerne wissen, wie produktiv sie das ganze Elend mit der Betreuung empfinden würde, wenn es sie betrifft.Wir müssen nicht versuchen, unsere „Work-Life-Balance“ zu optimierenHier kommt ein Satz, der keine Realitäten in zwei bricht. Hier ist ein Satz, der so realitätsnah ist, dass er diese weltfremden Politiker*innen zurück in diese Welt bringt, in unsere Welt, in meine Welt, die Welt, in der ich lebe. Der lautet so: Wer denkt, dass ich zwei Stunden mehr in der Woche arbeiten soll, kann gerne zwei Stunden pro Woche für mich umsonst babysitten. Wie wäre es, Thorsten? Oder Friedrich? Carsten? Oder Bärbel? Einmal pro Woche holt ihr meinen Sohn für mich aus dem Hort ab und bringt ihn zu mir. Umsonst natürlich, denn wir wissen alle, dass auf Kinder aufpassen keine „echte“ Arbeit ist. Auf dem Weg nach Hause dürft ihr ihm ein Eis kaufen, ihr holt ihn von der Schule ab – und mein Satz holt euch zurück in die Realität, in der wir jetzt leben.Während unsere Politiker*innen darüber fantasieren, dass Menschen in Deutschland zu viel „Work-Life-Balance“ haben, ist das Leben schwieriger als je zuvor. Rentner*innen suchen nach Pfandflaschen, Alleinerziehende werden in Wohnungslosenheime gesteckt, weil die Wohnungen in der Stadt zu teuer sind, das Leben ist schwerer denn je und die Arbeit so schlecht bezahlt, dass die Menschen in der S-Bahn und U-Bahn frühmorgens alle so aussehen, als ob sie sich selbst mehr hassen als das Aufstehen.Wir müssen nicht versuchen, unsere „Work-Life-Balance“ zu optimieren. Und schon gar nicht, uns Sorgen darüber machen, dass unsere „Work-Life-Balance“ so gut ist, dass sie bald der Arbeitsmoral in Deutschland schaden wird. Was wir brauchen, sind Politiker*innen, die wissen, wie das Leben in Deutschland wirklich ist, wie sich normale Arbeit in Deutschland anfühlt, und die Vorschläge machen, die mit diesem Universum zu tun haben und nicht mit irgendeinem Fantasiedeutschlandparalleluniversum in ihren Köpfen.Das kann alles passieren, es würde sogar ganz schnell gehen: Sie müssten nur einmal pro Woche für mich den Kleinen abholen. Nach zwei Wochen Babysitting verstehen sie, was Arbeit in der Realität bedeutet. Meldet euch bei mir, wir machen das klar.Jacinta Nandi ist eine britisch-deutsche Autorin und lebt mit ihren Kindern in Berlin. Ihr neues Buch Single Mom Supper Club erscheint im Juni im Rowohlt Verlag