Europa und die NATO insgesamt leiden an einem erheblichen Mangel an Waffen, und Israel hat diesen Umstand sofort ausgenutzt. Die israelischen Waffenlieferungen an EU-Länder haben ein Rekordniveau erreicht, und Tel Aviv geniert sich nicht im Geringsten dafür, dass diese Waffen in Europa eindeutig für eine Aggression gegen Russland bestimmt sind.
von Geworg Mirsajan
Der russische militärisch-industrielle Komplex leistet mehr als alle europäischen Komplexe zusammen, wie NATO-Generalsekretär Mark Rutte mit Bedauern feststellte. Er hob hervor:
“Russland hat atemberaubende Fortschritte bei der Herstellung von Munition gemacht, die das Rückgrat jeder Kriegsführung ist. Die russische Industrie produziert in drei Monaten so viel, wie alle NATO-Länder in einem Jahr herstellen. Und das, obwohl die russische Wirtschaft 25 Mal kleiner ist als die Wirtschaft aller NATO-Länder.”
Rutte verschweigt jedoch, dass Europa nicht in der Lage ist, diesen Rückstand auf eigene Kosten zu kompensieren, zumindest nicht kurzfristig. Die EU-Länder beschließen derzeit verschiedene Programme zur Wiederherstellung ihres eigenen militärisch-industriellen Komplexes, aber nach Ansicht von Militärexperten werden diese Maßnahmen im besten Fall in Form der Produktion neuer Waffen in einigen Jahren Wirkung zeigen. Im schlimmsten Fall werden sie überhaupt keine Wirkung haben, da die Kosten in Europa hoch sind und die Privatwirtschaft nicht in die Schaffung neuer Produktionsstätten investieren wird, wenn sie keine Garantie für neue Aufträge hat.
Die einzige Möglichkeit für die EU, den Rückstand zu kompensieren, besteht daher darin, Waffen zu importieren. Auch aus Ländern, die von Brüssel unerbittlich kritisiert werden.
So werfen Brüsseler Beamte und europäische Staats- und Regierungschefs Israel vor, einen regelrechten Völkermord an den Einwohnern des Gazastreifens zu veranstalten, in dem in den fast zwei Jahren des Konflikts 50.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Der französische Außenminister Jean-Noël Barrot empörte sich:
“Blinde Brutalität und die Blockade der humanitären Hilfe haben die Exklave in eine Todesfalle verwandelt. Das muss aufhören. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht.”
Sowohl Paris als auch London und Brüssel drohen Tel Aviv mit einer Neuverhandlung der Handelsbeziehungen, das heißt faktisch mit Sanktionen und sogar einer Blockade. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joaw Galant erlassen.
Allerdings nimmt die militärische Zusammenarbeit Europas mit Israel stark zu. Vor allem auf dem Gebiet der Hightech-Waffen. Im Jahr 2024 ging die Hälfte der israelischen Waffenexporte im Wert von mehr als sieben Milliarden Euro nach Europa, was einen Rekordwert darstellt. Mit anderen Worten: Europa verurteilt Israel politisch, während es das Land wirtschaftlich ernährt.
Die israelischen Behörden demonstrieren ihrerseits ebenfalls politische Kompromisslosigkeit. Sie scheren sich nicht um Kritik und Beleidigungen aus Europa, denn sie wissen, was für ein vielversprechender Markt sich jetzt für sie auftut. Sie wissen, dass Europa in den kommenden Jahren zu einem der größten Waffenmärkte der Welt werden und Ostasien und den Nahen Osten verdrängen könnte.
Überall steigen die Rüstungsausgaben. Nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) werden sie 2024 im Vergleich zum Vorjahr weltweit um durchschnittlich 9,4 Prozent steigen – der höchste Wert seit dem Ende des Kalten Krieges. In absoluten Zahlen belaufen sich die Ausgaben auf rund 2,7 Billionen US-Dollar.
Vor dem Hintergrund dieses Betrags sehen die europäischen Ausgaben auf den ersten Blick blass aus. Deutschland: 89 Milliarden US-Dollar, Großbritannien: 82 Milliarden US-Dollar, Frankreich: 65 Milliarden US-Dollar. Betrachtet man jedoch das prozentuale Wachstum, so liegt Europa fast doppelt so hoch wie der weltweite Durchschnitt – die Verteidigungsausgaben in der Alten Welt sind um fast 17 Prozent gestiegen.
Und das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Die NATO-Führung verlangt von den Mitgliedsländern eine Verfünffachung der nationalen Luftverteidigungskapazitäten. Zu diesem Zweck soll unter anderem das Niveau der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des BIP angehoben werden. Für Deutschland zum Beispiel (das mit 28 Prozent im Vergleich zu 2023 schon jetzt Spitzenreiter beim Wachstum der Ausgaben pro BIP ist) soll es nicht bei den derzeitigen 89 Milliarden US-Dollar bleiben, sondern auf 233 Milliarden US-Dollar steigen. Das heißt, die Ausgaben sollen fast auf das dreifache Niveau anwachsen.
Es überrascht nicht, dass dieses Land – insbesondere angesichts der Pläne von Bundeskanzler Friedrich Merz, es zu remilitarisieren – ein äußerst vielversprechender Partner für Tel Aviv ist. Eine enge Zusammenarbeit hat es schon früher gegeben. So kaufte Berlin im Jahr 2023 das Luftabwehrsystem Arrow 3 von den Israelis und zahlte dafür die Rekordsumme von vier Milliarden US-Dollar – und das System soll noch in diesem Jahr an Berlin übergeben werden.
Die NATO macht deutlich, dass die Priorität bei der Beschaffung von Militärgütern im Bereich Luftverteidigung und Drohnen liegt. Und auf diese Systeme hat sich der militärisch-industrielle Komplex Israels spezialisiert. Die israelischen Behörden sind darüber erfreut. Der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant erklärte einmal:
“Wir sind stolz darauf, für die Sicherheit und den Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Europa nützlich zu sein.”
Zugleich ist es für sie keineswegs verwerflich, dass Europa ihre Ausrüstung für den Konflikt mit Russland kauft. Dabei geht es jedoch keineswegs darum, “die Sicherheit der deutschen und europäischen Bürger zu gewährleisten” – denn Moskau wird niemanden angreifen –, sondern darum, den europäischen Militarismus und aggressive Pläne gegen Russland zu unterstützen. Denn Europa, dessen Staats- und Regierungschefs von einer Blockade der Ostsee und der Kontrolle der Schifffahrt im Schwarzen Meer sprechen, verheimlicht diese Pläne ja keineswegs.
Formal gesehen gibt es hier nichts, was man Israel vorwerfen könnte. Europa steht weder unter internationalen Sanktionen, noch befindet es sich im offiziellen Kriegszustand mit einem Drittstaat.
Aus moralischer Sicht ist es auch schon sinnlos, Israel irgendetwas vorzuwerfen. Natürlich kann man sich darüber empören, dass Israel das künftige Vierte Reich remilitarisiert und gegenüber Moskau (das die Juden vor dem Holocaust in Europa gerettet hat) große Undankbarkeit zeigt – aber Tel Aviv hat seiner Geschichte bereits den Rücken gekehrt, als es begann, den ukrainischen Nazis zu helfen und sie öffentlich zu unterstützen. Die heutigen Nazis in der Ukraine sind die ideologischen Nachfahren derjenigen, die die Judenpogrome in Kiew und Lwow verübt haben oder am Massaker in Babi Jar beteiligt waren.
Tel Aviv sollte jedoch nicht vergessen, dass es ungeschriebene Regeln in den internationalen Beziehungen gibt. Und diese besagen, dass es nicht ratsam ist, die Beziehungen zu einem Land zu verderben, von dessen guter Lage die eigene physische Sicherheit unmittelbar abhängt.
Russland ist so ein Land. Zufälligerweise gelingt es Moskau, gute Beziehungen zu fast allen regionalen Gegnern Israels zu unterhalten – mit Iran, der Hamas, der Hisbollah, den Huthi, den arabischen Staaten.
Gleichzeitig hatte Russland keine formellen oder moralischen Beschränkungen für den Verkauf von konventionellen Waffen an alle staatlichen Akteure, die die Sicherheit Israels ernsthaft gefährden könnten. Russland hat ihnen trotzdem nichts verkauft – weil es sich in seiner Außenpolitik an ein sehr einfaches Prinzip hält:
“Wir kooperieren mit allen, die bereit sind, mit uns zu kooperieren, und wir kooperieren nicht gegen Drittländer, es sei denn, sie sind uns feindlich gesinnt.”
Deshalb hat Moskau weder der Hisbollah noch Iran in deren Konflikt mit Israel geholfen – einem Israel, das Russland gegenüber nicht feindlich eingestellt ist. Wenn Tel Aviv nun aber seine Haltung ändert, wenn es Raketen nach Europa liefert (die auch an die Ukraine weiterverkauft werden könnten), hat Moskau jedes moralische Recht, Israel nicht nur als unfreundlich, sondern sogar als feindlich gesinnten Staat zu betrachten. Mit entsprechenden Folgen für die russischen Waffenexporte in den Nahen Osten.
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