Der Vortrag von Benny Morris in Leipzig wurde aus Angst vor propalästinensischen Protesten abgesagt. Nicht zum ersten Mal zahlt der Historiker einen Preis dafür, zu sagen, was er denkt – nur kam die Kritik einst aus ganz anderer Ecke


12. Juli 1948: Der palästinensische Widerstand in Ramleh ergibt sich, die palästinensische Bevölkerung wird massenhaft vertrieben

Foto: AFP


Als im Jahr 1990 der amerikanische Medienmogul Conrad Black die renommierte israelische Zeitung The Jerusalem Post kaufte, verlor der damals 41-jährige Morris mit einer ganzen Handvoll anderen linken israelischen Journalisten seinen Job. Die Zeitung sollte effizienter werden, aber auch konservativer. Das passte zum Zeitgeist im Nahen Osten und der westlichen Welt: In Israel wütete die Erste Intifada, Yassir Arafat und seine PLO unterstützen öffentlich Saddam Hussein. Frieden im Nahen Osten, war, wieder mal, in weiter Ferne.

Dabei veränderte sich gerade etwas, das dem Frieden hätte zuträglich sein können: Eine neue Bewegung israelischer Historiker, zu der auch Morris gezählt wird, beschäftigte sich Ende der 1980er-Jahre intensiv mit den Folge

äftigte sich Ende der 1980er-Jahre intensiv mit den Folgen der israelischen Staatsgründung 1948. Morris schrieb in seinem Buch The Birth of the Palestinian Refugee Problem („Die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems“) aus dem Jahr 1988 etwas, das zu dieser Zeit ungehört war und als unerhört galt. Morris fand Belege dafür, dass die Palästinenser*innen – im Gegensatz zur damals dominanten Erzählung – im israelischen Unabhängigkeitskrieg nicht nur freiwillig flohen, sondern in manchen Fällen vertrieben worden sind.Er schlussfolgerte: Diese Gruppe von Menschen, die man bewusst und gewaltsam heimatlos gemacht hatte, konnte dadurch erst empfänglich werden für Bewegung, die den Staat Israel hassen und vernichten wollen. Sein Buch machte ihn berühmt, es war aber auch ein mittelschwerer Skandal. Nach der Veröffentlichung überlegte er, Israel zu verlassen, weil ihn nach eigenen Aussagen keine Universität dort mehr beschäftigen wollte.Diese Woche Donnerstag sollte der unterdessen 76-jährige Benny Morris nun einen Vortrag an der Universität Leipzig halten. Die Veranstaltung im Rahmen einer Ringvorlesung trug den Titel „Der Krieg von 1948 und der Jihad“, was darauf hindeutet, dass Morris seine Thesen aus den 90er-Jahren noch immer vertritt. Mittlerweile sind diese kein Skandal mehr, sie gehören zum Stand der Forschung.Kritik an Benny Morris’ Aussagen zu „ethnischer Säuberung“Der Vortrag aber findet nicht statt. „Neben inhaltlichen Überlegungen“, so Eva Inés Obergfell, die Rektorin der Uni Leipzig, hätten Sicherheitsbedenken dazu geführt, dass Morris’ Vortrag abgesagt wurde. In einem anderen Statement der Uni heißt es: „Leider hat Prof. Morris zuletzt in Interviews und Diskussionen Ansichten geäußert, die teilweise als verletzend und sogar rassistisch gelesen werden können.“Eine propalästinensische Studierendengruppe hatte im Vorfeld gegen den Vortrag protestiert und die Absage gefordert. Morris hätte die „ethnische Säuberung der Palästinenser“ und einen „Genozid“ an ihnen gerechtfertigt. Ein Mitveranstalter der Ringvorlesung, der Religionswissenschaftler Gert Pickel, sagte, er habe „Sorge gehabt, dass es zu traumatisierenden Erfahrungen für jüdische Angehörige unserer Universität kommen könnte.“ Morris selbst sagte, er habe von der Absage „aus der Presse“ erfahren, die Universität hätte ihn nicht persönlich kontaktiert.Anlass für den Protest waren laut „Students for Palestine Leipzig“ ältere Aussagen von Morris. In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz aus dem Jahr 2004 erklärte er, dass er das Vorgehen des israelischen Ministerpräsidenten Ben-Gurion bei der Staatsgründung für notwendig hielt: „Wenn er nicht getan hätte, was er getan hat, wäre ein Staat nicht entstanden. […] Ohne die Entwurzelung der Palästinenser wäre ein jüdischer Staat hier nicht zustande gekommen.“ Der Interviewer fragt Morris auch, ob er „ethnische Säuberungen“ moralisch verurteile, woraufhin dieser entgegnet: „Es gibt Umstände in der Geschichte, die ethnische Säuberungen rechtfertigen. […] Wenn man die Wahl zwischen ethnischen Säuberungen und Völkermord hat – die Vernichtung unseres Volkes – dann bevorzuge ich ethnische Säuberungen.“Was hätte Benny Morris zum Krieg in Gaza gesagt?Seine Äußerungen von vor 20 Jahren verteidigte Morris jüngst in einem weiteren Interview mit der Schweizer Tageszeitung NZZ: „Ich sprach darin über die zweite Intifada, fast täglich sprengten sich damals Selbstmordattentäter in israelischen Bussen und Restaurants in die Luft. In diesem Kontext äußerte ich Zweifel an der Friedensbereitschaft der palästinensischen Führung.“ Den aktuell zunehmenden Druck auf israelische Akademiker*innen seitens propalästinensischer Gruppen hält er für „in Teilen“ antisemitisch motiviert.Was hätte Benny Morris zum aktuellen Krieg in Gaza gesagt? Ist er eine Fortsetzung des „Flüchtlingsproblems“, das er 1988 beschrieb? Hätte er über israelische Kriegsverbrechen gesprochen, so wie schon in seinen älteren Büchern? Wäre ihm wieder eine Äußerung entglitten, die heute noch als Skandal, aber morgen schon als Forschungsstand gilt?Einen Vorwurf kann man Benny Morris nicht machen: Dass er jemals aus Angst nicht gesagt hätte, was er denkt. Aus Angst vor falsch „gelesenen“ Aussagen, „verletzten“ Gefühlen oder potenziell „traumatischen“ Szenen wird nun zumindest an der Universität Leipzig niemand etwas von ihm hören. Aber Angst ist ein schlechter Begleiter auf der Suche nach der Wahrheit.



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Von Veritatis

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