Weil Esther keine Geburtsurkunde vorweisen kann, sind ihr Schulprüfungen verwehrt. So verdingt sie sich mit zwölf als Haushaltshilfe und wird schamlos ausgebeutet. Mit 15 schließt sie sich einer Gang an


Eine Schülerin in Nairobi auf dem Weg zum Unterricht: „Es wäre besser gewesen“, meint Esther heute, „an meiner Schule zu bleiben und auf die Prüfungen zu verzichten“

Foto: Don Wilson Odhiambo/Getty Images


In der Grundschule konnte es die heute 20-jährige Esther nicht abwarten, dass es wieder Montag war. Zur Schule zu gehen, bedeutete, dem dunklen Zuhause aus Wellblech und Enge zu entkommen, auf das sie mit ihrer Mutter in einem ärmeren Teil von Makadara reduziert war, einem dicht bebauten Quartier im Süden der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Esther musste damit leben, dass diese Behausung direkt an einem offenen Abwasserkanal lag und die Wände so dünn waren, dass es nie verborgen blieb, was die Nachbarn gerade taten. Es durchfuhr sie stets von Neuem ein Gefühl der Langeweile zwischen der Schlafenszeit und den anfallenden Arbeiten im Haushalt, die sie abstießen, je älter sie wurde.

Während der Schulzeit hatte sie wenigstens ihre Freunde und die Ro

und die Routine des Alltags. Wenn sie den an sich vorübergleiten ließ, glaubte sie unbeirrt an ein besseres Leben für sich und ihre Mutter Mueni, die keine feste Arbeit hatte. Jeden Tag ging Mueni auf die Suche nach einem Gelegenheitsjob und wusste nie, ob sie mit ein wenig Geld oder leeren Händen zurückkehren würde.2014 war Esther in der sechsten Klasse, als ihre Lehrerin verkündete, dass jeder seine Geburtsurkunde mitbringen müsse, um an landesweiten Prüfungen zum Schuljahresabschluss teilnehmen zu können. Diese Bedingung erwies sich als eine Hürde, die Esther nicht überwinden konnte, sodass sie befürchten musste, am Ende aus dem Schulsystem herausgedrängt zu werden.Diese Geburtsurkunde hatte ihr Vater, zu dem sie und ihre Mutter seit Jahren keinen Kontakt mehr unterhielten. Die Aussicht, ihn ausfindig zu machen, war gering. Auch scheiterten die Versuche, von den Behörden eine Kopie zu erhalten. Mueni wurde zwischen den Ämtern in Nairobi und Kitui hin- und hergeschickt, einer Stadt, die etwa 185 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt. Es war nicht ohne Weiteres möglich, von ihrem geringen, ohnehin nie ausreichenden, immer schwankenden Einkommen eine Busfahrkarte zu bezahlen. Nachbarn wurden gebeten, und sie halfen aus.Fehlende Dokumente sind in Kenia ein häufiges Problem für Familien, besonders für Frauen in ländlichen Regionen. Geringe oder gänzlich fehlende Lese- und Schreibkenntnisse fordern ihren Tribut. Wie ein aktueller Bericht der UNESCO feststellt, sei es eine Tatsache, dass grundlegende staatliche Dienstleistungen wie Bildung vorenthalten würden. Die Folge sei, dass Menschen lebenslang in informelle Beschäftigungen abgedrängt würden und die Teilhabe am öffentlichen Leben leide.Wie eine TochterEsther wurde wiederholt von der Leitung ihrer Schule nach Hause geschickt, weil sie die Geburtsurkunde nicht vorlegen konnte. Als sie erkannte, wie hoffnungslos die Bemühungen ihrer Mutter waren, und sie beide unaufhaltsam in eine prekäre finanzielle Lage abglitten, verlor sie den Mut. „Ich verstand nicht mehr, warum ich weiter zur Schule gehen sollte, wenn ich nicht an den entscheidenden Prüfungen teilnehmen durfte. Ich hatte das Gefühl, dass es für mich keinen anderen Weg mehr gab, als zu gehen“, erzählt sie.So brach Esther mit elf Jahren gegen den Willen ihrer Mutter still und leise die Schule ab und verließ das gemeinsame Zuhause. Sie hatte von einer Freundin gehört, dass eine Familie in einem Vorort von Nairobi, einem Quartier der unteren Mittelschicht, eine Haushaltshilfe suchte. Esther stellte sich vor und hörte, dass sie in dieser Familie „wie eine Tochter“ willkommen sei. Doch dann wurde sie mit Arbeit überhäuft und der versprochene Lohn zurückgehalten. Vereinbart waren 3.000 kenianische Schilling im Monat, umgerechnet gut 20 Euro, für mehr als zehn Stunden Arbeit am Tag.„Wenn ich um meinen Lohn bat, wurde mir erklärt: Warum sollten wir dir etwas bezahlen, wo du hier ausreichendes Essen und ein Obdach umsonst bekommst?“, erinnert sich Esther. „Ich stand um drei Uhr morgens auf, um das Haus zu reinigen, das Frühstück zuzubereiten und die Kinder für die Schule fertig zu machen. Ich hatte zu tun, bis die Familie ins Bett ging, und ständig das Gefühl, dass ich mir die Zeit zum Ausruhen stehlen musste. Es gab Tage, an denen ich glaubte, krank zu werden, aber sie ließen mich nicht aus dem Haus, ganz egal, wie schlimm ich mich fühlte. Ich war inzwischen zwölf, aber die Kindheit unwiderruflich vorbei. Wobei ich mich heute frage, ob ich überhaupt je eine hatte. Ich wurde nicht behandelt wie eine Tochter, sondern wie eine Haussklavin.“Hausarbeit ist KinderarbeitEsther musste sich die Mahlzeiten getrennt zubereiten. Ihr Essen sei oft von schlechterer Qualität und weniger nahrhaft gewesen als das der Familie. Außerdem durfte sie zum Kochen nur den Holzkohle-, nicht den Gasherd benutzen, was doppelt so viel Zeit kostete. Und wann hatte sie die? Einmal wurde Esther im Beisein von Gästen des Hauses mit einem Stock geschlagen, weil sie den Tee nicht schnell genug servierte. Sie fühlte sich gedemütigt und hatte Schmerzen am ganzen Körper. „Niemand will so arbeiten. In dieser Zeit kam mir oft der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, an meiner Schule zu bleiben und auf die Prüfungen zu verzichten, die mir verweigert wurden. Ich wäre dort niemals so behandelt worden.“Es gibt keine aktuellen Daten zur Zahl der Minderjährigen, die oft wie Leibeigene in kenianischen Haushalten der Ober- und Mittelschicht gehalten werden. Allerdings ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass in vielen Regionen, ebenso in größeren Städten, Hausarbeit mit Kinderarbeit gleichgesetzt werden muss. Eine Studie aus dem Jahr 2023 fand heraus, dass Kinder schon im Alter von sieben oder acht Jahren durch Armut zur Arbeit getrieben werden, körperlicher Misshandlung ausgesetzt sind und häufig keinen oder kaum Lohn erhalten. Normalerweise sind vor allem die Grundschulen in Kenia dazu angehalten, die Schulpflicht bis zum 14. Lebensjahr durchzusetzen und den Gründen nachzugehen, wenn Kinder selten oder gar nicht zum Unterricht erscheinen.Zivilgesellschaftliche Gruppen beweisen mit ihren Recherchen, dass das Schicksal von Schulabbrechern, vorrangig in ärmeren Gebieten, in der Regel nicht nachverfolgt wird. Damit würden Kinder vernachlässigt – quasi abgeschrieben. Zudem sei diese Missachtung eine Gewähr dafür, dass Familien mit geringem Einkommen den fatalen Zwängen der Armut nicht entkommen. Esther beschreibt, wie sich ihre alten Freunde aus der Schule nach und nach von ihr abgewandt hätten. Einmal ausgestiegen, war sie ausgestoßen.Geld mit DrogenschmuggelIrgendwann bezahlte die Familie, für die sie arbeitete, ihr absolut nichts mehr. Sie lief weg und war lieber obdachlos, als weiter das Dasein einer Leibeigenen zu fristen. Eine ältere Haushaltshilfe stellte sie einer Straßengang vor. Deren Anführer erklärte Esther, dass sie viel Geld verdienen könne, würde sie für seine Männer arbeiten. Die Gruppe machte ihre Geschäfte in mehreren ärmeren Stadtvierteln Nairobis. Esther, mittlerweile 15, schmuggelte von da an Drogen und Waffen, da Mädchen weniger oft verdächtigt, verhaftet oder von der Polizei erschossen werden. Die Gang schenkte ihr im Gegenzug schicke Kleider und finanzierte ihren Lebensunterhalt. Es ging geradezu buchhalterisch zu. Man notierte sorgfältig ihre „Arbeitsstunden“ und versprach, alles zu bezahlen, sollte sie die Gang einmal verlassen. Dazu kam es, als zwei Männer erschossen wurden und ein weiterer wegen des Besitzes und Verkaufs von Drogen verhaftet wurde.„Ich hatte Angst“, berichtet Esther. „Das Leben wurde zu gefährlich, aber als ich zu verstehen gab, dass ich lieber aussteigen wollte, und mein Geld forderte, bekam ich plötzlich als Antwort, nur tot dürfe man die Gang verlassen.“ Aus Angst um ihre Sicherheit flüchtet sie ohne einen Schilling und beginnt wieder, sich als Haushaltshilfe zu verdingen, diesmal in einer Familie mit sieben Personen, wieder in einem Viertel der Mittelschicht. Erneut sei sie von ihren Arbeitgebern misshandelt worden. Alles wurde noch viel schlimmer, als sie es von ihrer ersten Anstellung her gewohnt war.Eines Tages war ein Großteil der Familie nicht zu Hause, nur sie und ein Sohn des Hauses, der dort wohnte, weil er an einer Universität in der Nähe studierte. Der junge Mann bedrängte und vergewaltigte Esther. Als sie das seiner Mutter erzählte, wurde ihr vorgeworfen, es erfunden zu haben oder selbst schuld zu sein, wenn etwas vorgefallen sein sollte. Da Esther illegal arbeitete und keinen Identitätsnachweis besaß, war es ein Risiko, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Ohnehin erschien es zweifelhaft, dass ihrer Aussage gegen das Wort einer wohlhabenden Familie Glauben geschenkt würde.Ohne Geburtsurkunde kein PersonalausweisSchließlich wandte sich Esthers Mutter Mueni an die Hilfsorganisation „Cana Family Life“ in Nairobi, die minderjährigen Haushaltshilfen beisteht, damit sie derartigen Situationen entkommen und wieder Aufnahme in einer Schule finden können. Das gelang zwar nicht, doch konnte Esther auch ohne Abschlussprüfung eine Lehre als Friseurin beginnen und sucht nun nach einem Salon, der sie beschäftigt.Nur leider beeinträchtigt die fehlende Geburtsurkunde weiterhin ihre Aussichten. Ohne das Dokument kann Esther keinen nationalen Personalausweis beantragen, den sie brauchen würde, um sich selbstständig zu machen. „Es sollte mehr Unterstützung für Leute geben, die Schwierigkeiten haben, an rechtliche Dokumente zu kommen“, findet ihre Mutter Mueni. „Das sollte möglich sein, weil die Auswirkungen einfach katastrophal sind, wenn man in diesem Land keine Papiere hat – das Leben meiner Tochter wurde dadurch aus der Bahn geworfen.“Die Ministerien für Bildung und Arbeit in Nairobi antworteten nicht auf die Bitte der Autorin, einen Kommentar zu diesem Fall abzugeben. Und das zuständige Standesamt teilte mit, es benötige die erforderlichen Dokumente einschließlich einer Kopie von Esthers Geburtsurkunde, um etwas zu tun. Alles wie gehabt.Caroline Kimeu ist Korrespondentin des Guardian für das östliche Afrika und arbeitet von Nairobi aus



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Von Veritatis

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