Persönlich zur Urne zu schreiten? Diese Tradition stirbt mehr und mehr aus. Viele stimmen lieber per Briefwahl ab. Doch gerade bei der bevorstehenden Bundestagswahl sollte man dabei etwas beachten

Foto [M]: der Freitag, Material: Imago Images


Die Entwicklung der vergangenen Jahre ist eindeutig: Deutschland ist zum Briefwahlland geworden. Ursprünglich als Ausnahme angelegt, damit die am Wahltag verhinderten Menschen ihre demokratischen Rechte wahrnehmen konnten, ist die Briefwahl für viele Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik mittlerweile zum Normalfall geworden.

Zuerst zum praktischen Vorgehen: Ob aus Bequemlichkeit oder anderen Gründen, die Briefwahl muss beantragt werden, formlos per Telefon oder per Internet oder E-Mail. Einzige Voraussetzung: eine Wahlbenachrichtigung liegt bereits vor. Nicht mehr möglich ist die Beantragung von Briefwahlunterlagen per Telegramm: 2022 hat die Deutsche Post mangels Nachfrage den Versand von Telegrammen eingestellt. Die Wahlunterlagen werden dann auf dem Post

f dem Postweg zugeschickt. Darin enthalten: ein Wahlschein, ein Stimmzettel, ein Stimmzettelumschlag sowie ein roter Wahlbriefumschlag. Der Stimmzettel wird angekreuzt, dann in den weißen Stimmzettelumschlag gesteckt. Dieser Umschlag kommt verschlossen und zusammen mit der ausgefüllten eidesstattlichen Versicherung (für die Gültigkeit wichtig: Name und Datum) auf dem Wahlschein in den roten Umschlag. Anschließend kann der rote Umschlag in die Post – aus Deutschland braucht es dabei keine Briefmarke. Das werden wohl auch in diesem Jahr sehr viele Menschen machen.2009 entfiel die Begründungspflicht für eine Beantragung von Briefwahlunterlagen. Seitdem sind die Zahlen gestiegen, bei der Bundestagswahl 2021 wählte fast die Hälfte aller Wahlberechtigten nicht mehr in Wahllokalen, sondern gab ihre Stimme schon vor dem Wahltag ab.Wer sind die Briefwähler?Weil bei der Bundestagswahl in Stuttgart 2021 eine Briefwahlsortieranlage zum Einsatz kam, liegen Daten dazu vor, wie sich Briefwähler tatsächlich verhalten: Lassen sie sich nach Beantragung der Briefwahlunterlagen viel Zeit, um zu überlegen, wen sie für geeignet halten? Oder fällen sie doch eher frühzeitig ihre Wahlentscheidung?Vorsichtig geschätzt ließe sich „eine durchschnittliche Verweildauer bei den Briefwählenden von etwa acht bis neun Tagen“ annehmen, heißt es in einer Auswertung der Daten der roten Umschläge, in denen die eigentlichen Wahlunterlagen versteckt sind. Fast die Hälfte der Briefwähler sendete 2021 ihren Wahlbrief schon nach knapp einer Woche an das Wahlamt zurück. Da war die Wahl ganz regulär angesetzt, mit mehr Vorlauf.Bei der vorgezogenen Wahl 2025 dürfte sich das noch einmal beschleunigen. Und muss es auch: Teils werden Briefwahlunterlagen erst ab dem 13. Februar versandt – wer dann zwei Wochen überlegt, dessen Brief kommt definitiv zu spät. In Briefkästen mit Samstagsleerung eingeworfene Stimmen sollen aber noch rechtzeitig ankommen, verspricht die Post.Was bedeutet die Popularität der Briefwahl für Wahl und Wahlkämpfer?Für den Wahlkampf hat die Popularität der Briefwahl Rückwirkungen: Denn wenn knapp ein Viertel der Deutschen seine Kreuze nach der ersten Woche, das wäre nach den Stuttgarter Zahlen eine Woche nach Erhalt der Briefwahlunterlagen und damit schon rund um den 10. Februar der Fall, würden wesentliche Teile des Wahlkampfs an dieser Gruppe vorbeigehen.Denn seit Anfang Februar gehen die Unterlagen an die Briefwähler raus, seitdem die Stimmzettel final feststehen. Höchstens das ARD/ZDF-TV-Duell zwischen Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD) und Herausforderer Friedrich Merz (CDU) bekommt diese allererste Wählergruppe noch mit. Anschließende Formate kommen für sie schlicht zu spät. Auch der Rest der Briefwähler wird bald danach seine Kreuzchen setzen – die „heiße Wahlkampfphase“ der letzten beiden Wochen vor dem Wahltermin könnte daher eher lauwarm werden. Oder kommt es doch anders?Der Wahlforscher Thorsten Faas sieht vor allem potenzielle Wechselwähler als Zielgruppe der Wahlkampagnen. Der Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin rechnet eher mit einem Rückgang als mit einer Steigerung des Briefwahlanteils: „Alleine schon wegen der verkürzten Zeit gehe ich davon aus, dass der Anteil zurückgehen wird“, betont Faas. „Zumal wir ja 2021 noch in der Pandemie waren, die auch zu mehr Briefwahl geführt hat.“Türkeistämmige Deutsche wählen seltener per BriefTatsächlich müssten sich die Parteien auf die Briefwähler bei ihrer Kampagnenführung einrichten, sagt der Leiter Arbeitsstelle Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland: „Aus einem Wahltag werden Wahlwochen. Allerdings in diesem Jahr dann doch wieder komprimierter.“ Und vor allem einen strukturellen Unterschied gebe es: „Die Briefwähler sind wohl weniger wankelmütig als die unentschlossenen – die Hauptzielgruppe der Parteikampagnen“, sagt Faas.Was die Daten der Wahlbriefzählmaschine in Stuttgart auch zeigen konnten: Bei den Unter-70-Jährigen gibt es mehr Frauen als Männer, die die Briefwahl nutzen. Bei der jüngsten Gruppe, den Unter-25-Jährigen, sind es sogar deutlich mehr Frauen als Männer, die ihre beiden Stimmen per Post versenden.Deutlich weniger populär scheint die Nutzung der Briefwahl bei anderen Gruppen zu sein. Eine kleinere Studie in Duisburg etwa ergab, dass vor allem türkeistämmige Deutsche wenig Gebrauch von der Möglichkeit machten: Nur 25 Prozent, und damit deutlich weniger als in der Gesamtbevölkerung – aber auch im Vergleich zu anderen Gruppen mit Migrationsgeschichte. Damit haben die türkeistämmigen eine Gemeinsamkeit mit einer anderen Bevölkerungsgruppe: AfD-Wähler.Denn die wählen tatsächlich viel weniger per Brief und deutlich mehr im Wahllokal. Während die Ergebnisse bei allen anderen Parteien zwischen Präsenz- und Briefwahl etwa gleich sind, halten sich in Kreisen der Rechten die Verschwörungstheorien zur Briefwahl seit Jahren hartnäckig. Bei der Europawahl betrug der Unterschied der Partei gleich 10,4 Prozent zwischen Wahllokal und Briefwahlergebnis.In den Kommunen gibt man sich vorbereitet. Insbesondere in Sachsen ist das Aufkommen schwer zu berechnen – der Wahltermin liegt dort mitten in den Winterferien. Das Leipziger Amt für Statistik und Wahlen rechnet daher „mit einer weiter wachsenden Briefwahlquote, was darüber hinaus auch dem generellen Trend einer stetig steigenden Briefwahlbeteiligung entspricht.“ Auch in Chemnitz rechnet man mit einem neuen Briefwahlrekord, wie die Stadt auf Anfrage des Freitag mitteilte.In Sachsen war die AfD zuletzt besonders stark – nun müssen sich einige der Wähler der Rechtsextremen entscheiden: Vertrauen sie doch der Briefwahl? Oder opfern sie ihre Ferien, um am Wahltag persönlich die Stimme in eine Urne zu schmeißen?Ist Briefwahl „unsicherer“?Sachliche Gründe dafür, ihr nicht zu vertrauen, gibt es eh nicht. Erfahrene Wahlhelfer wissen, dass einem ordnungsgemäß verschlossenen Wahlbrief nicht anzusehen ist, welche Stimme für welche Partei und welchen Kandidaten darin steckt. Und auch die Auszählung von Briefwahlstimmen ist öffentlich. Wer möchte, kann den Aufschlitzorgien live und in Farbe beiwohnen.Doch all das spielt in den Zerrbild-Welten der Verschwörungstheoretiker keine größere Rolle. Dabei gibt es eine Möglichkeit, um auch ganz ohne Post bereits Wochen vor der eigentlichen Wahl seine Stimme abzugeben: In sogenannten „Sofortwahlstellen“ wird die Briefwahl vor Ort in einem Briefwahllokal durchgeführt – das bieten alle Kommunen an. Am Freitagmorgen nutzte beispielsweise der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck diese Möglichkeit und gab im Rathaus Flensburg seine Stimme ab. Einhergehend mit einem für diesen Ort ungewöhnlichen Medienspektakel.Fünf Werktage kann es in Deutschland dauern, bis ein Brief ankommt. Besonders spurten müssen sich Deutsche im Ausland: Durch die längeren Wege sollten sie den Wahlbrief möglichst sofort nach Erhalt losschicken. Für Indonesien etwa rechnet die Post mit zehn bis 14 Tagen, die ein Brief braucht, für Guatemala bis zu 18 Tagen. Selbst aus Estland gelten drei bis sechs Tage als realistisch.Für manche Länder steht daher ein besonderer Service zur Verfügung: Das Auswärtige Amt hat den „Kurierdienst“ an einigen Botschaften und Konsulaten eröffnet – dann werden die Wahlunterlagen kurz vor dem Wahltag direkt nach Berlin transportiert und von dort an die Wahlämter weitergeleitet.



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Von Veritatis

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