Wer vor der 24. Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt erleidet, hat kaum Anrecht auf den gesetzlichen Mutterschutz. Der Bundestag wollte sich mit einer entsprechenden Petition beschäftigen. Was daraus nun wird, ist unklar
Die meisten Fehlgeburten geschehen in den ersten zwölf Wochen und sind für viele Frauen körperlich wie seelisch sehr schmerzhaft
Foto: Marie Haefner/Connected Archives
Als Dorothee Schmid 2021 das erste Mal schwanger wird, freuen ihr Mann und sie sich: Sie planen ihre Zukunft mit Kind und erzählen ihren Familien davon. Bei einem Kontrolltermin in der 16. Schwangerschaftswoche dauert der Ultraschall auffällig lang, erinnert sich Schmid: „Irgendwann hat die Ärztin dann gesagt, dass sie keinen Herzschlag mehr findet.“ Zwei Tage später kommt sie in eine Klinik, wo ihr der Fötus unter Vollnarkose entfernt wird. Die behandelnde Ärztin schreibt sie eine Woche krank und überweist sie zur bisherigen Gynäkologin.
Als Schmid sich dort vorstellt, hat sie noch psychische und physische Schmerzen, weshalb sie um eine weitere Krankschreibung bittet. „Die Ärztin hat mich angeschaut und gesagt: Frau Schmid, sie
chmid, sie können doch zur Arbeit gehen.“ Für die Logopädin, die mit kleinen Kindern arbeitet, ist das unvorstellbar – zu tief sitzt die Trauer um ihr verlorenes Baby. Nach einer kurzen Diskussion habe die Ärztin Schmid widerwillig für eine weitere Woche krankgeschrieben.Kein Urteil, aber ein ErfolgIn Deutschland hat jede berufstätige Frau das Recht auf Mutterschutz: Dazu gehört zum Beispiel, dass einer schwangeren Frau nicht einfach so gekündigt werden darf und dass am Arbeitsplatz besondere Rücksicht auf ihre Gesundheit genommen werden muss, vom ersten Tag an.Ein ganz wichtiger Teil des Mutterschutzes ist, dass werdende Mütter sechs Wochen vor der Geburt und acht Wochen nach der Geburt zu Hause bleiben dürfen – bei vollem Gehalt. Bei einer normalen Schwangerschaft von 40 Wochen beginnt diese Frist also in der 34. Woche. Wenn eine werdende Mutter jedoch eine Fehlgeburt erleidet, hat sie kein Recht auf diese Mutterschutzfrist, außer die Fehlgeburt fand ab der 24. Woche statt, das Baby hat zumindest kurz gelebt oder mindestens 500 Gramm gewogen.Ab diesem Gewicht ist ein Baby in Deutschland offiziell als Person anerkannt und muss bestattet werden. Die meisten Fehlgeburten passieren allerdings in den ersten zwölf Wochen. Für viele Frauen eine sehr schmerzhafte Erfahrung – körperlich und seelisch. Ob sie die nötige Zeit zum Genesen bekommen, hängt von der jeweiligen Ärztin, dem jeweiligen Arzt ab und vom Willen, die Frau krankzuschreiben.Auf der Suche nach anderen Betroffenen stößt Dorothee Schmid im Internet auf die familienpolitische Aktivistin und Autorin Natascha Sagorski, die sich für den sogenannten gestaffelten Mutterschutz einsetzt. Die 39-Jährige erlitt 2019 eine Fehlgeburt in der zehnten Schwangerschaftswoche. „Nach der Operation habe ich im Krankenhaus von der Ärztin den Satz gehört: Eine Krankschreibung brauchen sie nicht, sie können morgen wieder arbeiten gehen. Dieser Satz hat nachgewirkt“, sagt Sagorski. Sie beginnt für ihr Buch Jede 3. Frau zu recherchieren und erfährt, dass Frauen nach einer Fehlgeburt regelmäßig um eine Krankschreibung kämpfen müssen. „Das hat mich so wütend gemacht“, sagt sie.Natascha Sagorski glaubt, dass der gesetzliche Mutterschutz verfassungswidrig sei, und reicht deshalb mit Dorothee Schmid und zwei weiteren Frauen 2022 eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Nach zwei Jahren hat das Gericht in Karlsruhe nun eine achtseitige Erklärung zur Causa veröffentlicht. „Das Bundesverfassungsgericht hat sehr wichtige Hinweise gegeben, die der Gesetzgeber künftig aufgreifen wird“, so Rechtsanwalt Remo Klinger, der die Frauen vertritt. Laut dem Gericht sei entscheidend, ob eine Frau entbunden habe. „Mediziner sagen, dass bei Fehlgeburten ab ungefähr der 17. Woche auch eine Entbindung vorliegt. Der Gesetzgeber wird gar nicht drum herumkommen, eine derartige Regelung ins Gesetz aufzunehmen“, sagt Klinger.Begriff der Entbindung nicht klar geregeltEin Urteil hat das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht gefällt. Die Verfassungsbeschwerde der Frauen wurde wegen nicht eingehaltener Fristen abgelehnt: Sie hätten ihre Klage zuerst bei den Krankenkassen, den zuständigen Sozialgerichten oder Arbeitsgerichten einreichen müssen. Trotzdem wertet der Jurist die Erklärung des Gerichts als Erfolg.Denn laut Bundesverfassungsgericht sei der Begriff der Entbindung im Gesetz nicht klar genug geregelt und könne daher vor Gericht eventuell neu interpretiert werden. Frauen, die eine frühe Fehlgeburt erleiden, hätten somit die Chance, ihren Anspruch durchzusetzen und ihre Krankenkasse und ihren Arbeitgeber auf Mutterschaftsgeld zu verklagen.Wenn das zuständige Gericht befindet, dass es sich bei der Fehlgeburt tatsächlich um eine Entbindung handelt, gilt der reguläre Mutterschutz – mit dem Anspruch auf das volle Gehalt nach der Fehlgeburt. Dieses Ergebnis könnte nun Frauen dazu motivieren, bei einer Fehlgeburt vor der 24. Schwangerschaftswoche vor Gericht zu ziehen. „Das wird die Politik unter Druck setzen, das Mutterschutzgesetz nachzubessern“, so Klinger.Sagorski startete im Jahr 2022 außerdem eine mit 22.283 Mitzeichner:innen erfolgreiche Petition für den gestaffelten Mutterschutz: Zu Beginn einer Schwangerschaft müsse es eine freiwillige Mutterschutzfrist von zwei Wochen geben, die sich mit der Schwangerschaftsdauer erhöhen würde. Ein Jahr später trägt sie ihr Anliegen erstmals im Bundestag vor. Sie überzeugt damit unter anderem Leni Breymaier, SPD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Familienausschusses.Der Bundestag wollte sich mit der Petition befassenSo sah der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition vor, die Mutterschutzfrist auf Frauen mit Fehlgeburten ab der 21. Schwangerschaftswoche erweitern zu wollen. Mehr sei mit dem Koalitionspartner FDP, der versprochen habe, nichts zu tun, was Unternehmen oder Arbeitgeber belasten könnte, nicht möglich gewesen, sagt Breymaier. Arbeitgeber:innen bezuschussen das von den Krankenkassen gezahlte Mutterschaftsgeld, allerdings werden ihnen diese Kosten von den Krankenkassen zurückerstattet. Nach der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts ist es Breymaier nun vor allem wichtig, Frauen und Arbeitgeber:innen schnell eine rechtliche Absicherung zu geben. Offen bleibt die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft die Mutterschutzfrist künftig gelten wird, also das Recht darauf, sich zu Hause zu erholen: von den Strapazen einer Schwangerschaft, Geburt oder Fehlgeburt.Just am Tag des Koalitionsbruchs hatte der Petitionsausschuss einstimmig empfohlen, die Petition mit dem höchstmöglichen Votum „zur Berücksichtigung“ an die Bundesregierung zu überweisen. Das Plenum des Parlaments sollte sich Mitte November damit befassen. Sagorski und Schmid hoffen weiter, dass sich das Gesetz noch in dieser Legislaturperiode ändert.