Die Anti-Migrations-Rhetorik vor der Wahl, bei der viel auf dem Spiel steht, hat Ängste geschürt, anstatt die drängenden strukturellen Probleme zu diskutieren
Von der „Willkommenskultur“ 2015 war 2025 in Berlin nichts mehr zu spüren
Foto [M]: Noemie De Bellaigue/AFP/Getty Images
Umgeben von Marktständen, an denen alles vom türkischen Börek-Gebäck bis zu verzierten iPhone-Hüllen verkauft wird, erzählt die 53-jährige Lina, dass sie sich schrecklich Sorgen darüber macht, was nach der Wahl am Sonntagabend auf sie und ihre drei Kinder zukommen könnte.
Sie lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Nachdem sie aus dem Libanon hierhergekommen war, hat sie für sich und ihre Familie eine Existenz geschaffen. Jetzt – nach einem hitzigen Wahlkampf, in dem die meisten Politiker versucht haben, den Aufstieg der extremen Rechten mit harten Tönen über Migranten abzuwehren – fragt sie sich, was das für Konsequenzen für ihr Leben haben wird, das sie sich mit viel Mühe aufgebaut haben.
„Es macht A
Übersetzung: Carola Torti
equenzen für ihr Leben haben wird, das sie sich mit viel Mühe aufgebaut haben.„Es macht Angst“, erklärte sie. Noch schlimmer ist, dass die Flut migrantenfeindlicher Rhetorik den Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ (AfD) scheinbar kaum aufgehalten hat. Umfragen weisen darauf hin, dass die extrem rechte Partei auf dem Weg ist, bei der Bundestagswahl am Sonntag erstmals auf Platz zwei zu landen. „Sie sind gegen den Islam, gegen Araber“, zählt Lina auf. „Wer weiß, welche Gesetze sie gegen uns beschließen werden? Es ist wirklich beunruhigend.“Ihre Worte weisen darauf hin, wie viel auf dem Spiel steht, wenn Deutschland an die Wahlurne geht. Migration hat im Vorfeld der Wahlen eine große Rolle gespielt und wurde wiederholt als ein Problem dargestellt, das gelöst werden muss; von Bundeskanzler Olaf Scholz‘ Versprechen, „öfter und schneller abzuschieben“, bis hin zu den Vorschlägen des konservativen Oppositionsführers Friedrich Merz von der CDU, Asylbewerber an den deutschen Grenzen abzuweisen und straffällig gewordenen Doppelstaatlern die Staatsbürgerschaft zu entziehen.Beide haben offenbar versucht, mit der AfD Schritt zu halten, die mit dem Versprechen der „Remigration“ hausieren gegangen ist. Zudem brachte sie immer wieder Migration in Verbindung mit Kriminalität und stellte damit fälschlich Millionen Deutsche an den Pranger, die aus der ganzen Welt stammen, friedlich im Land leben und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten.Placeholder image-1„Es ist das erste Mal, würde ich sagen, dass ich mich wirklich wie eine Fremde in meinem eigenen Land fühle“, sagte die Sozialwissenschaftlerin Cihan Sinanoğlu, die für das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) arbeitet. „Menschen und Gruppen, die rassistisch eingeordnet werden, verstehen, dass die ganze Debatte über Migration auch eine Debatte über uns ist, darüber, was es bedeutet, Deutscher zu sein und wer dazugehört und wer nicht.“„Viele von meinen Freunden haben Angst“Die kurzsichtige Fokussierung auf die Migration ermöglichte es auch den meisten Politikern, die zahlreichen Herausforderungen zu umgehen, vor denen Deutschland steht, von stark steigenden Wohnkosten über die Klimakrise bis hin zu steigender Ungleichheit. „Niemand will über strukturelle Probleme sprechen“, klagte Sinanoğlu. „Daher wird alles Schlechte in der Welt auf die Figur des Asylbewerbers projiziert; Mieten, Wirtschaftssystem, Armut. Das ist verrückt.“Das Ergebnis ist eine anstehende Wahl, die viele verunsichert. „Ich habe supergroße Angst und viele von meinen Freunden haben Angst“, erzählte eine 28-Jährige, die nicht namentlich genannt werden wollte.Sie kam 2015 aus Syrien nach Deutschland, als eine Welle der „Willkommenskultur“ über das Land hinwegging und Deutschland zu einem sicheren Ort für mehr als eine Million Menschen machte, die vor Krieg und Verfolgung geflohen waren. Nun fragt sie sich, wie viele Menschen, die sie kennt, sich darauf vorbereiten, eine rechtsextreme Partei zu unterstützen, zu deren Reihen auch Neonazis gehören. „Sie sind unsere Nachbarn, sie sind Eltern. Und sie wagen es, wieder Faschismus zu wählen“, sagte sie.Der Wahlkampf habe das erstaunliche Versagen der Politiker aufgedeckt, eine andere Geschichte über Deutschland zu erzählen, eine, die in der Lage ist, die Vielfalt des Landes – von Menschen mit Migrationshintergrund bis hin zu LGBTQ+-Personen zu nutzen, um Herausforderungen wie die alternde Infrastruktur und eine angeschlagene Wirtschaft zu bewältigen, sagte der Filmemacher und Geschichtenerzähler Tyron Ricketts. „Bereits vor der Wahl war das politische Klima von der rechten Partei gekapert“, erklärte er. „Das kommt davon, dass die tragischen Terroranschläge politisiert werden, anstatt über die wirklichen Probleme zu sprechen.“Das Fehlen eines inklusiven Modells habe dazu beigetragen, die Suche nach einem Sündenbock zu befeuern, ist Rickets überzeugt. „Ich weiß, dass das schon einmal funktioniert hat, vor allem in Deutschland, aber es ist einfach ein sehr gefährliches Spiel“, sagte er. „Ich finde, es ist eine Schande für die Parteien, die sich als demokratisch oder Mitte oder Mitte-rechts bezeichnen, sich einer solchen Vorgehensweise zu bedienen.“Erst diese Woche veröffentlichte das Ifo-Institut mit Sitz in München eine Studie, die ergeben hat, dass es „keine Korrelation“ zwischen Migration und höheren Kriminalitätsquoten gibt. „Dasselbe gilt insbesondere für Flüchtlinge“, sagte einer der beteiligten Wissenschaftler, Jean-Victor Alipour, in einem Statement.Neue deutsche TeilungIm Zentrum von Berlin umgeben von Läden, in denen vor allem Migranten arbeiten, beklagt die 25-jährige Samira die Art und Weise, wie viele Politiker über Menschen sprechen, die aus dem Ausland kommen. „Migranten machen einen großen Teil von Berlin und Deutschland allgemein aus“, sagte sie und verwies auf die afrikanischen Wurzeln ihres aus dem Tschad stammenden Vaters. „Ohne Migranten hätten wir viele Dinge nicht, die wir derzeit haben … Ich verstehe wirklich nicht, warum wir sie aus dem Land drängen sollten.“ Genau dieser Punkt wurde während des Wahlkampfs von Gewerkschaften, Ökonomen und Denkfabriken herausgestellt. Nachdem der Sturz des Assad-Regimes einige Politiker in Deutschland dazu veranlasst hatte, die Rückkehr von Syrern in ihr Heimatland zu fordern, teilte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung umgehend mit, dass rund 80.000 Syrer in Sektoren mit großem Arbeitskräftemangel arbeiten, von der Automobilindustrie über die Zahnmedizin bis zur Kinderbetreuung.Auch arbeiten mehr als 5.000 syrische Ärzte Vollzeit in Deutschland, womit ihre Rückkehr „kritische Mängel“ in der medizinischen Versorgung bedeuten würde, hieß es weiter.Die Abhängigkeit des Landes von der Migration, um seine Wirtschaft am Laufen zu halten, wurde von den Politikern während des Wahlkampfs jedoch kaum thematisiert. Stattdessen stützten sich viele auf einseitige Narrative und ermutigten damit die extreme Rechte auf eine Weise, die schwerwiegende Auswirkungen auf People of Colour haben könnte, sagte die 23-jährige Olivia, deren Vater aus Nigeria stammt. „Man kann es schon spüren“, fügte sie hinzu. „Es verändert sich bereits, aber es wird wahrscheinlich noch schlimmer. Ich habe Angst davor, das in der Zukunft zu erleben.“Im September zog die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, eine Verbindung zwischen dem Aufstieg der extremen Rechten und einer „Diskriminierungskrise“. Sie verwies auf mehr als 20.000 Fälle, die zwischen 2021 und 2023 in ihrem Büro anfielen. „Millionen Menschen haben Angst um ihre Zukunft“, sagte Ataman damals. „Angesicht der Wahlerfolge der Rechtsextremen ist es wichtiger denn je, die Menschen effektiv vor Hass und Ausgrenzung zu schützen.“In den ostdeutschen Bundesländern, in denen bei den Landtagswahlen im Herbst fast ein Drittel der Wählerinnen und Wähler extrem rechts gestimmt hatten, haben Gruppen für Migrantenrechte vor einem starken Anstieg an Angriffen gegen Migranten gewarnt. Sie verwiesen auf die Berichte von Leuten, angespuckt, angegriffen oder ins Gesicht geboxt worden zu sein.Nur wenige Tage vor der Bundestagswahl hätten extrem rechte Akteure wie die AfD bereits insofern Erfolg gehabt, als dass es ihnen gelungen sei, Deutschland neu zu teilen, sagte Markus Beeko, während er durch einen der Stadtteile der Hauptstadt lief, der früher in Ost- und Westberlin aufgeteilt war. „Es lässt sich nicht genug Bewusstsein erkennen, dass das eine Debatte ist, bei der jeder aufstehen sollte. Am Arbeitsplatz zum Beispiel möchte man, dass die Leute sagen: ‚Okay, wir verstehen, dass das ein Angriff auf dich als unseren Kollegen ist und wir stehen zu dir‘.“ Während einige Menschen auf die Straße gingen, um gegen das sich verändernde politische Klima zu protestieren, hätten viele in den Medien und anderswo rechtsextreme Ansichten nicht deutlich zurückgewiesen, findet der 57-Jährige. „Für viele Leute, die sich angegriffen fühlen – sei es, dass sie weiblich oder transgender sind oder einen anderen kulturellen Hintergrund haben –, für viele Leute unterstreicht das wirklich das Gefühl, dass sie nicht dazugehören“, befürchtet er. „Und ich denke, es ist schwierig, das zu heilen und sich damit zu versöhnen, weil es eine lang anhaltende Wirkung hat.“