Im 21. Jahrhundert müsste Ökologie zentral sein, doch es ist ein Verliererthema. Der Kultursoziologe Bernd Stegemann erklärt im Gespräch, warum daran paradoxerweise die allzu heiligen Grünen Schuld sind
Heiland oder tragische Figur? Robert Habeck hätte die Intelligenz für die Führung einer ökologischen Partei, sagt Bernd Stegemann
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In falschen Händen heißt Bernd Stegemanns neues Buch, Untertitel: Wie Grüne Eliten eine ökologische Politik verhindern. Das groß geschriebene Adjektiv ist kein Rechtschreibfehler, sondern laut Autor Programm für eine Partei, die der ideologischen Selbstbeweihräucherung verfällt. Dem Freitag erzählt Stegemann, wie die Grünen zwar die Schöpfung nicht bewahren, aber aus Robert Habeck einen Heiland malen.
Herr Stegemann, sind Sie Katholik?
Na klar, ich komme aus dem Münsterland! Aber ich bin ausgetreten. Warum fragen Sie?
Weil Ihre Verdammung der Grünen biblischen Ausmaßen ähnelt. Sie schreiben der Ökopartei –
… die Grünen sind keine Ökopartei! …
… in Ihrem neuen Buch einige Todsü
#228;hnelt. Sie schreiben der Ökopartei –… die Grünen sind keine Ökopartei! …… in Ihrem neuen Buch einige Todsünden zu – Hochmut, Zorn, Selbstsucht …… und Ignoranz, stimmt. Trägheit des Herzens. Das passt doch ganz schön, ist auch ein kleiner Spaß, gebe ich zu. Einmal katholisch, immer katholisch. Und die Grünen haben Schuld auf sich geladen, haben sich an der Ökologie versündigt.Übertreiben Sie nicht ein wenig?Der religiöse Ton kommt von den Grünen selber. Die Grünen greifen gern in die hohen Tasten der Moral, gerieren sich überaus anklagend, hantieren mit apokalyptischen Szenarien. Für die Grünen geht doch ständig die Welt unter, sobald nicht genau die Begrenzung des CO₂-Ausstoßes erreicht ist, die sie für erforderlich halten. Und all das im Anklagemodus des Besserwissens. Auf Kirchentagen stellen sie damit die absolute Mehrheit. Worauf ich hinweisen wollte ist, dass dieser moralische, endzeitliche Duktus gerade das Problem ist.Sie wirken amüsiert, aber auch sehr zornig. Es gibt Grund für Zorn. Die Partei, die Ökologie auf ihre Fahnen schreibt, ist fahnenflüchtig. Die Grünen kümmern sich um alles Mögliche, aber nicht um Ökologie. Dabei ist unsere Erde das entscheidende Anliegen des 21. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert war es der Klassenkampf, im 20. Jahrhundert waren es die großen Ideologien. Seit 45 Jahren gibt es die Grünen – und die haben die Ökologie viel zu leichtsinnig in einen Moraldiskurs verwandelt, Überwachen und Strafen, Verbotspolitik. Immer, wenn sie in der Regierung waren, hat das Thema an Zustimmung verloren, wurde sogar verhasst, und daran sind die Grünen schuld.Weil Ökologie nicht aus Moral besteht?Natürlich nicht, so wenig wie Sozialpolitik aus Almosen besteht. Menschliches Handeln hat in der Natur Folgen, das findet in einem hyperkomplexen System statt – und das ist grundsätzlich nicht moralisch. Schwarz-Weiß-Denken hilft hier nicht. Wir Menschen agieren aber mit unserer Dummheit und Brutalität wie Elefanten im Porzellanladen. Aber Natur ist weder gut noch böse, und schon gar nicht rein. Die Grünen wollen immer so gern rein sein. Aber ihr Reinheitsverlangen zeitigt im politischen System die gleichen Folgen wie im ökologischen System die Reinigung der Äcker vom Unkraut mit Glyphosat. Beides zerstört die Vielfalt, die eine Qualität der Ökologie ist.Nun hat gerade der Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck immer betont, wie komplex alles ist.Ja, das würde ich verteidigen an ihm. Und genau darum kreide ich ihm das politische Versäumnis an.Welches Versäumnis?Dass die Grünen keine ökologische Politik machen. Habeck hätte dafür die Intelligenz! Dass er damit keine Resonanz gefunden hat, kristallisiert das Problem in seiner Person. Er weiß, was nötig ist, dass man vieles zusammendenken muss, hört zu, ist empathisch, urteilt nicht wie all die anderen in seiner Partei. Habeck denkt nicht in Lagern, sondern in Bündnissen. Dass er fähig ist, nicht in Moralisierung zu denken, zeichnet ihn aus. Aber er hat das Problem, dass er damit alleine steht. „Unsere Ideologie ist die Wirklichkeit“ – guter Satz von Habeck. Aber er stimmt nicht für seine Partei. So gesehen, ist Habeck eine tragische Figur: Er wäre viel ökologischer als es sein Milieu zulässt.Und er hat ebenfalls einen „Ich bin der gute grüne Mensch“-Wahlkampf geführt. Die bittere Pointe ist, dass er dadurch dazu beigetragen hat, dass die Grünen ein so schlechtes Ergebnis eingefahren haben. Die grüne Wählerschaft will die Polarisierung und wandert bei zuviel Komplexitätszumutungen zur Linkspartei. Aber es ist nicht ökologisch, ist nicht komplexitätstauglich, der bessere Mensch, „gegen rechts“ undsoweiter zu sein. Hätten die Klassenkämpfer im 19. Jahrhundert sich nur in solche undialektischen Anklagen geflüchtet, hätten sie nichts erreicht. Die Grünen agieren wie Teenager, sind in ihre Empörung verliebt und wollen das dumme Volk erziehen. Andere argumentieren, dass Habeck versucht, das realpolitisch mögliche Maximum an Ökologie rauszuholen aus den Verhältnissen.Schön wär’s, aber was ist denn passiert? Ökologie ist doch nicht mal mehr ein Thema für Sonntagsreden. Mit Ökologie verliert man Wahlen. Und daran sind die Grünen und ihr Besserwisser-Milieu schuld.Weil sie das Thema zur Moralisierung und Selbstdarstellung missbraucht haben?Weil sie statt ökologischer Politik eine hochindividualisierte, polarisierte Ideologie nach vorn stellen.Was hätten Sie Habeck geraten? Welchen Wahlkampf hätte er führen sollen?Die Frage stellt sich nicht mehr. Er ist in einer schwierigen Situation. Habeck versuchte etwas, wozu seine Partei nicht bereit ist: offenes Denken.Insbesondere als Zeit-Leser hat man ein wenig das Gefühl, dass die Grünen-Spitze mit Weihe überschüttet wird, nach ihrem Scheitern gerade auch deren Spitzenkandidat Habeck. Eine flehentliche Petition – „Lieber Robert“ – für seinen Verleib als Hoffnungsträger haben mittlerweile 250.000 Anhänger unterschrieben. Was halten Sie davon? Das ist genau das Milieu, was ich beschreibe, dieses Milieu lebt in einer schrecklichen Selbstverzauberung. Man ist davon durchtränkt, ein guter Mensch zu sein, und dann macht man halt aus Habeck einen Heiland.Plädieren Sie im Grunde für einen radikalen Pragmatismus?Nein, ich plädiere für eine radikale Offenheit der Ökologie gegenüber. Die Grünen sind beschäftigt, diesem CO₂-Ziel hinterherzulaufen. Das ist aber nur EINE Perspektive darauf. Eine andere Perspektive wäre, wie müssen wir unser ganzes Dasein umbauen, damit wir mit dem Klimawandel überhaupt noch leben können? Wasserversorgung, Energie, Landwirtschaft, Städtebau. Da könnten wir als Industriegesellschaft sehr vieles leisten und erfinden, damit den anderen Ländern helfen und sogar die Wirtschaft ankurbeln. Aber die Grünen lehnen diese Anpassung an die Wirklichkeit ab, weil das angeblich den Druck von den Verboten nähme. Ihre ideologische Verhärtung wirkt lebensfeindlich und ist anti-ökologisch. Und da hat eben auch Habeck versagt.Sie scheinen Habeck mit der Partei insgesamt zu verwechseln. Ricarda Lang etwa gibt es auch. Sie sagte, dass liberale Demokratien immer schwülstiger in ihrer Selbstbeschwörung werden – und substanzlos im Umgang mit der Wirklichkeit. Sie ist auch eine Grüne, stimmen Sie ihr zu?Ja, aber leider sagt sie all diese klugen Sachen erst, nachdem sie vom Parteivorsitz zurückgetreten ist …Sie kritisieren auch Annalena Baerbock. Was haben Sie gegen feministische Außenpolitik?Dagegen habe ich nichts, aber warum sagt die erste grüne deutsche Außenministerin nicht, dass sie ökologische Außenpolitik machen will?Einwand: Ökologische Politik ist gerade im globalen Süden ohne Frauen nicht zu machen. Aber die Reihenfolge war verkehrt. Grüner wäre gewesen: Wir machen ökologische Außenpolitik, und deshalb ist Feminismus wichtig.Baerbock will weiter eine führende Rolle spielen, Habeck zieht sich zurück. Was halten Sie davon?Menschlich kann ich verstehen, dass er nach so vielen Jahren des Angegriffenwerdens keine Lust mehr hat. Dauernd ziehen sich Politiker zurück aus diesem mörderischen Geschäft. Aber warum jetzt diese Verkitschung als Erlöser, der uns sündige Menschen allein lässt?Dafür kann Habeck doch nichts?Er hat sich als Projektionsfläche angeboten. Er hätte auch seine rhetorische Nachdenklichkeit weniger als Trick nutzen können. Statt ständig darauf zu achten, gedankenvoll und intelligent rüberzukommen, hätte er auch mal was Intelligentes sagen und vor allem intelligente Politik machen können.Die Grünen polarisieren gerade an der Spitze enorm. Die einen hassen sie, die anderen huldigen ihr als Heilsbringerin. Was würden Sie der Partei in der Opposition raten?Dass sie die vier Jahre Opposition nutzt, um mit ihrer Stiftung, ihren vielen Mitgliedern und Sympathisanten ernsthaft zu erforschen: Was bedeutet ökologische Politik im 21. Jahrhundert? Denn auf diese Frage gibt es keine Antwort, und vor allem keine einfache Antwort. Aber ich fürchte, sie machen das Gegenteil. Ich fürchte, sie beschränken sich auf ihre Kernkompetenzen Protest und Gut-Böse-Polarisierung. Das sind anti-ökologische Denkweisen! Und wenn sie die nicht hinter sich lassen, werden sie keine ökologische Partei werden.Wie könnten die Grünen zu einer ökologischen Partei werden?Sie müssten die individualistischen Vorlieben ihres Milieus enttäuschen und damit aus der Pfadabhängigkeit ihrer eigenen Parteigeschichte heraustreten. Sie müssten Wirtschaft und Industriegesellschaft anders denken: Wie können wir anders produzieren, anders konsumieren? Wenn die Grünen sich diese Fragen ergebnisoffen und ohne Moralisierung stellen würden, wäre ich in Gefahr, Grünenmitglied zu werden.