Viele Linken-Abgeordnete sind zum ersten Mal im Parlament, einige haben kaum damit gerechnet, gewählt zu werden – 8,8 Prozent schienen außer Reichweite. Wer sind sie, und was haben sie vor? Unsere Autorin hat nachgefragt

Collage: der Freitag; Material: Presse/Sebastian Friedrich


Mareike Hermeier kommt gleich zur Sache. „Wahnsinn, ich kann es immer noch nicht glauben“, sagt die 35-Jährige am Telefon. Da liegt die Wahl zum Deutschen Bundestag vier Tage zurück. Hermeier ist eines seiner neuen Mitglieder: Für die Linkspartei ist die Großhandelskauffrau aus Metelen in Nordrhein-Westfalen über den Listenplatz 11 der Landesliste eingezogen. In ihrem sehr ländlichen und konservativen Wahlkreis hat sie gegen Jens Spahn von der CDU kandidiert, als „lebendige Brandmauer“ – und weil sie als Alleinerziehende ein Zeichen im Wahlkampf setzen wollte.

An einen Einzug in den Bundestag dachte Hermeier dabei im Traum nicht, nicht mal am Wahlabend. Sie hatte das, bevor die Umfragewerte der Partei in den Wochen vor der Wahl in

in den Bundestag dachte Hermeier dabei im Traum nicht, nicht mal am Wahlabend. Sie hatte das, bevor die Umfragewerte der Partei in den Wochen vor der Wahl in die Höhe schossen, sogar stochastisch berechnet und eine Wahrscheinlichkeit von nur 8,41 Prozent ermittelt.Den Wahlkampf bezeichnet Hermeier rückblickend als „wild“ – laut und unkonventionell. „Ich bin teilweise mit einem Bauchladen rumgelaufen. Ich habe zwar den Keller voll mit Popup-Stand, Schirm und allem möglichen, aber allein schleppt man sich damit ja kaputt.“ Zu Beginn des Wahlkampfes gab es zwei aktive Mitglieder im Ortsverband Steinfurt der Linken, zu dem auch Metelen gehört. Den Schatzmeister und eben Hermeier. „Da muss man halt auch mal allein mit dem Bauchladen los.“ Auf Podiumsdiskussionen war sie gegenüber Jens Spahn nicht immer ausgesucht höflich. „Ich dachte mir ja, pfff, den siehste eh nicht wieder.“Wird sie nun aber doch: in Berlin. Hermeier gehört zu den vielen Unverhofften – jenen Abgeordneten der neuen Linksfraktion, die, als sie sich vor einigen Monaten dazu entschieden, als Kandidat*innen in den Wahlkampf zu ziehen, es sicherlich nicht aus Karrieregründen taten. Damals lag die Partei seit geraumer Zeit in Umfragen unter fünf Prozent – schon wer glaubte, man werde die Sperrklausel überspringen, galt als unerschütterlicher Optimist, fast schon als Realitätsverweigerer.Jung, berufstätig und westdeutschDann aber erhielt Die Linke fast neun Prozent der Stimmen und ist nun mit 64 Abgeordneten im Parlament vertreten. 70 Prozent von ihnen sind zum ersten Mal im Bundestag. Zieht man all jene ab, die schon in Landesparlamenten saßen oder für Abgeordnete tätig waren, also Berufspolitiker*innen sind, so bleiben immer noch 34 Abgeordnete übrig.Darunter sind mehrere Pflegekräfte, etwa die 30-jährige Stella Merendino, die in Berlin-Mitte fast noch den siebten Wahlkreis für Die Linke gewonnen hätte und am Ende der Grünen-Kandidatin nur um 1,5 Prozent der Erststimmen unterlag. Mehrere Sozialarbeiter*innen sind dabei, ebenso der Duisburger Stahlbauschlosser Mirze Edis, der Forstwirt Marcel Bauer aus Karlsruhe, vier Gewerkschaftssekretär*innen oder zwei Ärzte: der während des Wahlkampfes schwer erkrankte Armenarzt Gerhard Trabert aus Rheinland-Pfalz und Michael „Moses“ Arndt aus dem Saarland, einst Mitglied der Hardcorepunkband „Challenger Crew“ und 1998 schon einmal (erfolgloser) Kandidat für den Bundestag, damals noch für die Anarchistische Pogo-Partei.70 Prozent von ihnen sind zum ersten Mal im Bundestag.Der jüngste männliche Abgeordnete des neuen Parlaments – der 23-jährige Jura-Student Luke Hoß aus Passau – gehört ebenso zur Linksfraktion wie die jüngste weibliche Abgeordnete, die 24-jährige Fachkauffrau für Büromanagement Zada Salihović aus Pirna. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten beträgt 42 Jahre, womit die Linksfraktion künftig die jüngste im Bundestag ist – zugleich aber aller Wahrscheinlichkeit nach mit Gregor Gysi den Alterspräsidenten stellen werden wird. Dessen ostdeutsche Herkunft macht ihn indes zur Minderheit in den eigenen Reihen: Nur noch etwa ein Viertel der Abgeordneten kommt aus den sogenannten neuen Bundesländern, womit die Transformation der Linken zu einer gesamtdeutschen Partei weitgehend abgeschlossen sein dürfte. Auch, weil diese Verschiebung in der Bundestagsfraktion mit jener in der Mitgliedschaft korrespondiert.Placeholder image-4„Ich bin nichts Besonderes“Aus Westdeutschland kommt auch Cem Ince, 31 Jahre alt, Arbeiter und Gewerkschafter in dritter Generation, nach betriebsinterner Weiterbildung inzwischen ITler beim Autobauer VW. Ince ist geboren und aufgewachsen in Salzgitter, Niedersachsen, wo er auch heute noch lebt. Nach gewerkschaftlichem Engagement im Betrieb und der Tätigkeit als Jugend- und Auszubildendenvertreter warb ihn 2021 die Linkspartei an, deren Kreisvorsitzender in Salzgitter er heute ist. Sein Listenplatz war – anders als der von Mareike Hermeier – von Anfang an durchaus aussichtsreich: Platz zwei in Niedersachsen, der Platz nach Heidi Reichinnek.Im Wahlkampf in Salzgitter hat eher die Industriepolitik und weniger als in Städten wie Berlin der Mietendeckel eine Rolle gespielt. Bei VW und dem Stahlkonzern Salzgitter AG gab es in den zurückliegenden Monaten Proteste; es ging dabei um Löhne und Arbeitsplätze, über allem schwebt die große Frage des Umbaus von Auto- und Stahlindustrie zu E-Mobilität und grünem Stahl. „Den Kolleginnen und Kollegen ist klar, dass es Veränderung braucht, nur sind sie eben auch unsicher, das ebnet den Rechten den Weg, die versprechen, dass alles so bleiben könne, wie es ist“, sagt Ince. Er will die Beschäftigteninteressen in dieser Auseinandersetzung in den Bundestag tragen. Placeholder image-1Bis dahin ist aber noch einiges vorzubereiten: Vor allem, sagt Ince, müsse er sich abgewöhnen, allen Leuten zuzunicken, wie er es aus dem Betrieb kennt – im Bundestag könnten es ja Abgeordnete oder Mitarbeiter der AfD sein. Und er macht sich Gedanken darüber, wie er sich davor schützen kann, vom Parlamentarismus eingesaugt und nach vier Jahren völlig verändert wieder ausgespuckt zu werden. „Das habe ich diese Woche schon gemerkt. Ich war in Berlin zur ersten Fraktionssitzung. Es war sehr harmonisch und gut. Aber ich habe auch gemerkt: Das ist eine andere Welt.“Ich habe gemerkt: Das ist eine andere Welt.Seine Unterkunft in Berlin soll keinesfalls in Parlamentsnähe liegen – außerdem möchte er so viel wie möglich Wahlkreisarbeit machen, Salzgitteraner bleiben. „Ich bin jetzt zurück, war gestern gleich beim Ortmigrantenausschuss der IG Metall, um mit den migrantischen Kollegen der umliegenden Betriebe über die Ergebnisse der Wahlen zu diskutieren. Das sind dann die Orte, wo ich wieder auf den Boden der Tatsachen geholt werde und merke, dass ich nichts Besonderes bin, sondern einer, der jetzt eben die Chance hat, unsere gemeinsamen Themen nach Berlin zu tragen.“Und was wird aus der Masterarbeit?Die Frage, wie sie es schaffen, auf dem Boden zu bleiben, beschäftigt viele. Einige haben deshalb bereits angekündigt, ihre Bezüge zu deckeln und alles, was über einem bestimmten Betrag liegt, an die Partei, an Sozialfonds und Initiativen abzuführen. Im Wahlkampf haben etwa die Parteivorsitzenden Jan van Aken und Ines Schwerdtner, die bereits ihr Gehalt deckeln, versprochen, dies auch mit den Diäten zu tun. Beide wurden ebenfalls neu in den Bundestag gewählt: Für Schwerdtner als Wahlkreissiegerin in Berlin-Lichtenberg ist es das erste Mandat, van Aken, der über die Hamburger Landesliste eingezogen ist, war bis 2017 bereits Abgeordneter und verzichtete dann auf eine weitere Kandidatur. Auch Kathrin Gebel wird ihre Bezüge begrenzen: auf 2850 Euro, das entspricht derzeit einem Durchschnittsgehalt in Deutschland. Gebel ist 27 Jahre alt, Studentin und hat auf dem Listenplatz 7 der Landesliste in NRW kandidiert. Sie findet, dass die Diätenbegrenzung „eine konkrete Maßnahme ist, um nah bei den Menschen zu bleiben und sich nicht in den Rädern des Parlamentarismus verändern zu lassen“. Placeholder image-2Mit 18 ist Gebel in Die Linke eingetreten, wegen der „sogenannten Flüchtlingskrise, die mich sehr bewegt hat“, wie sie sagt. Sie hat selbst einen Migrationshintergrund, ihre Familie kam in den 1990er Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. „Ich wollte meine Stimme einsetzen für diejenigen, die sich 2015 in der Lage befanden, in der meine Familie vor 30 Jahren war.“ Dann ist Gebel „nach oben gestolpert“ in der Partei – war Bundessprecherin des Jugendverbandes, seit 2022 ist sie Mitglied im Parteivorstand, war dort kinder- und jugendpolitische Sprecherin und ist mittlerweile für feministische Politik zuständig.Sie hat in Münster kandidiert; dorthin ist sie 2020 gezogen, um den Sohn ihrer Cousine zu hüten, die keinen Kitaplatz fand. „Dass es keine Kitaplätze gibt, ist in Münster großes Thema, ich finde das ist ein riesiges Staatsversagen, das auf dem Rücken von Frauen ausgetragen wird“, sagt sie. Auch ihre eigene Mutter war alleinerziehend. Am Wahlabend erhielt Gebel einen Anruf von ihr. Besorgt um das Studium der Tochter erkundigte sie sich zuallererst danach, wie es denn nun mit der Masterarbeit weitergehe. Da werde sie sich was überlegen, sagt Gebel, das Studium wolle sie in jedem Fall beenden. Und eine Wohnung in Berlin muss noch gefunden werden – eine WG mit zwei anderen linken Abgeordneten soll es sein.Eine Wohnung in Berlin muss noch gefunden werden – eine WG mit zwei anderen linken Abgeordneten soll es sein.Das mit der Unterkunft in Berlin steht auch auf der langen Liste von Dingen, die Mareike Hermeier aus Metelen jetzt klären muss. Die Betreuung für ihre Tochter in den Sitzungswochen zu organisieren, gehört ebenfalls dazu, es gibt noch viele offene Fragen. Was hingegen klar ist, sind die Themenfelder, in denen sich Hermeier einbringen möchte. Besonders am Herzen liegen ihr Asyl- und Migrationspolitik. Und dann natürlich die Familienpolitik, speziell die Lage von Alleinerziehenden. „Es wird einen Kitagipfel geben, den wir angekündigt haben und auf dem wir uns mit Beschäftigten, Gewerkschaften und Eltern zusammenzusetzen und einen Vorschlag für eine vernünftige Kitareform ausarbeiten wollen.“Die Linke hat außerdem ihr Wort dafür gegeben, für einen Mietendeckel zu kämpfen – vielleicht das wichtigste Wahlkampfversprechen von allen. Zudem ist sie sofort nach der Wahl in eine aufgeheizte Debatte um die Schuldenbremse, ein Sondervermögen für die Bundeswehr und die Unterstützung der Ukraine geworfen worden. Zeit zum Verschnaufen oder zur Eingewöhnung bleibt den Abgeordneten also kaum. Egal, ob sie im Parlament alte Hasen oder unverhofft eingezogene Neulinge sind.





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Von Veritatis

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