Der Westen scheint den Krieg tatsächlich zu verlieren. Wie gehen wir mit unserer Ohnmacht um?

Illustration: Geléeregen für der Freitag


Wenn große Mächte Kriege verlieren, nimmt das die Leute mit. „Die Stimme stockt mir, und vor Schluchzen kann ich nicht weiterdiktieren“, sprach der Heilige Hieronymus, als er vom Fall Roms erfuhr. Bei allem Glaubenseifer war dessen Unbesiegbarkeit Teil seines Selbsts: „Was ist noch heil, wenn Rom zugrunde geht?“

Ähnlich fühlen sich jetzt viele Europäer angesichts des nun wohl „schmutzig“ endenden Ukraine-Krieges. Nach seiner Münchner Sicherheitskonferenz klang Christoph Heusgen wie der alte Kirchenvater. Viele – gerade linksliberale, humanistische – Deutsche hatten nicht nur Partei ergriffen, sondern sich mit einer Seite identifiziert. Sie waren bereit, Opfer zu bringen. Es hat trotzdem nicht gereicht. Unser Wille

nser Wille wurde überwunden, unsere Stellung missachtet, unser Recht verlacht. Die Gewissheit ist verloren, nicht nur auf der richtigen, sondern auch mächtigen Seite zu stehen. Das hinterlässt ein verbreitetes Trauma, mit dem man politisch umzugehen lernen muss.Kriege sind nationale Kraftakte, selbst wenn nicht die eigenen Kinder kämpfen. Können sie dann nicht als Sieg gedeutet werden, hinterlassen sie Gefühle der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins, der Wut über das Versagen, des Hasses auf den Feind und seine Helfershelfer. Wem das Handy abgezogen wird, der geht vielleicht ins Fitnessstudio, übt sich in Kampfsport, kauft eine Waffe, stimmt womöglich für Law & Order. Nur ist das vergeudete Zeit. Es mag ja kurz das Mütchen kühlen, sich als Chuck Norris in die traumatische Situation zurückzuversetzen. Real wäre das Ziehen einer Waffe aber nicht so schön. Besser wären Therapie und Yoga – und die Handy-Räuber gehören zum Sozialarbeiter.So ähnlich ist es jetzt im Großen. Das kollektive Kriegstrauma, das sich hierzulande verbreitet, mag nichtig sein im Vergleich zum ukrainischen. Real ist es trotzdem: Ein guter Teil der düsteren, gedrückten Stimmung, die rund um die Wahl im progressiven Lager herrscht, geht darauf zurück. Soll man nun zur Beruhigung jährlich fünf Prozent der Wirtschaftsleistung in Drohnen und Raketen stecken? In grimmigen Gedanken einen neuen Donbass-Feldzug planen? Auch ein dauerhafter Boykott alles Russischen wäre nur ein kurzfristiges Ressentiment der Entlastung.Die Heilung des Traumas begänne im Bauch. Konzentrieren wir uns auf Dinge in unserer Reichweite, können wir wieder Erfahrungen von Stärke und Selbstwirksamkeit machen – jenseits des nationalen oder abendländischen Kollektivs. In sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen, in gelebter Solidarität, in gesellschaftlichen Bündnissen, im Feiern auch kleiner Erfolge lassen sich all die lähmenden Gefühle von Ohnmacht und Notstand überwinden, die sich mit dem Krieg – und zuvor für viele mit der Pandemie – verbunden hatten. Für Teile des progressiven Lagers mag der Wahlerfolg der Linken ein Schritt auf diesem Weg gewesen sein. Doch auch jenseits von Parteipolitik muss gelten: Wir fangen wieder an. Let’s take our country back – selbstbewusst von unten.Längerfristig bedarf es aber eines zweiten Schritts: Auf Basis eines verbesserten Gefühlshaushalts lässt sich der Krieg auch rationaler verarbeiten. Wirft nicht sein mögliches Ende am grünen Tisch der Großen Mächte auch neues Licht auf seine Entstehung? Ist „Putin hat die Ukraine überfallen, weil er konnte und wollte“ tatsächlich schon alles, was wir dazu zu sagen haben? Haben westliche Politiker seit 2013 nur gut und klug agiert? Hatte nur eine Seite schnöde Machtinteressen – und war der Krieg tatsächlich nicht vermeidbar? Jenseits einer Deutung als „nationale Schmach und Schwäche“ werden wir aus dem Geschehenen sinnvollere Lehren ziehen können als „wir waren zu naiv und zu schwach bewaffnet“.Es wird gewiss nicht einfach sein, auch dieses Thema anzugehen. Die Wunden sind für viele noch frisch. Aber irgendwann muss man beginnen, erst behutsam, dann entschlossener. Nur so können wir uns irgendwann wieder erholen von all den Ohnmachtsgefühlen und von dem Hader, der sich über uns gelegt hatte.Anton Stortchilov ist Historiker und in der Offenbacher Linken aktiv



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Von Veritatis

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