Noch in Jahrmillionen wird die umweltzerstörerische Anwesenheit des Menschen nachweisbar sein, einen riesigen Anteil daran trägt die Architektur. Friedrich von Borries schreibt eine spekulative Archäologie: aus Sicht eines Außerirdischen


Auch in Kopenhagen hat Bjarke Ingels seine Spuren hinterlassen: CopenHill – ein Kraftwerk, das gleichzeitig Skipiste, Kletterwand und Wanderweg ist

Foto: IMAGO/Gonzales Photo


In Friedrich von Borries knapp 500 Seiten umfassenden Buch bekommt man gelegentlich das Gefühl, er kann das Erzählen nicht lassen. Eine spekulative Archäologie, so ist Architektur im Anthropozän untertitelt, und als einen erzählerischen Kniff erfindet von Borries ein außerirdisches intelligentes Wesen aus der Zukunft, das mit archäologischem Interesse auf das Zeitalter der Menschen blickt.

Alles geht die Architektur an, zumindest in den Büchern von Friedrich von Borries, denn der Design- und Architekturtheoretiker, der an der HfBK in Hamburg lehrt, hat unter anderem über Guerrilla-Marketing im Spätkapitalismus geschrieben, über Fertighäuser, über den DDR-Architekten Franz Ehrlich; außerdem ist er Verfasser von Romanen. Auch in seinem jüngsten Buch ist die Versuchsanordnung romanhaft kompliziert: Welche Geschichte wird über uns erzählt werden?

Unsere fossile Präsenz lässt sich am CO2-Ausstoß messen

Der geologisch klingende Begriff Anthropozän ist umstritten, hat aber im Kulturbetrieb Karriere gemacht. Der Architektur kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn noch in Jahrmillionen wird unsere – umweltzerstörerische – Anwesenheit nachweisbar sein, auch wenn wir schon längst verschwunden sind. Unsere fossile Präsenz lässt sich am CO2-Ausstoß messen, und zu den größten Emittenten gehört die Bauindustrie. 55 Prozent der Erdoberfläche sind durch Eingriffe von Menschen verändert – auch sie fallen in den Zuständigkeitsbereich der Architektur: Städte, Landwirtschaft, Infrastruktur. Architektur ist der Versuch, die Erde bewohnbar zu machen. Meistens steht sie in einem antagonistischen Verhältnis zur Natur.

Wie ein Bild für die Ursünde des Bauens taucht immer wieder Prometheus auf, der Titan, der den Göttern das Feuer gestohlen und es den Menschen gebracht hat. Welche Bauform ist die Geburtsstätte der fossilen Gegenwart: Feuerstelle, Fabrik, Atomkraftwerk? Und hat vielleicht auch der Architekt Le Corbusier damit zu tun, der sich Wohnhäuser am liebsten als Maschinen vorstellte? Vielleicht sind die Architekturen des Anthropozäns nicht nur Staudämme und Ölplattformen, also Bauten, die aus der Umwelt extrahieren und sie umformen, sondern auch fetischisierte Klassiker, vom Neuen Bauen über den Brutalismus der Nachkriegsjahre bis zu den Prestigebauten der Postmoderne.

Utopie der grenzenlosen Verfügbarkeit

Seit dem 18. Jahrhundert, dem Beginn der Industrialisierung, heißt Architektur auch: eine Utopie der grenzenlosen Verfügbarkeit. Als sich der Ölmogul Rockefeller in New York sein Center errichtete, wurde die Fassade mit Muschelkalk verkleidet, das Fossile schrieb sich ins symbolische Äußere ein. Aus Rockefellers Standard Oil Company ist Exxon hervorgegangen. Die Firma wusste schon früh von der anthropogenen Erderwärmung, hielt die Studien aber geheim: Wissen und Handeln steht oft im Widerspruch. Von Borries’ Buch ist voll mit solchen Beobachtungen, und es ist ein bisschen so, als würde das Anthropozän sich tief in der Architekturgeschichte der Moderne verbergen.

Von Borries schreibt über die Verantwortung der Architekt*innen, und er dehnt die ethischen Fragen über ökologische Überlegungen aus, wenn er zum Beispiel über das 1968 gegründete Wiener Kollektiv Coop Himmelb(l)au schreibt, das einmal für ein gegenkulturelles Umkrempeln der Architektur stand, aber mittlerweile eher für megalomane Hochhäuser bekannt ist, und dessen Gründer Wolf D. Prix auch kein Problem damit hatte, im Auftrag der russischen Regierung ein Opernhaus auf der besetzten Krim zu entwerfen. Noch 2020 schrieb der Stararchitekt Jacques Herzog in seinem Letter from Basel ein „Manifest der Verantwortungslosigkeit“, wie von Borries es nennt. Die Architektur könne nichts tun angesichts von Umweltkatastrophen, Armut, Ungleichheit.

Nicht alle denken so. Es gibt Strategien, Aussteigen aus dem System, Utopien in der Wüste, auf dem Wasser bauen oder im All, beispielsweise. Aber dass auch das nicht der Weltrettung dient, sondern auch als Machtinstrument, zeigt der Autor anhand der Saudi-Arabischen CO2-neutralen Planstadt The Line, die in der Wüste entstehen sollte, und deren Gefüge eher einem totalitären System gleicht. Und dann taucht, wie ein täglich grüßendes Murmeltier, in fast jedem Kapitel Bjarke Ingels auf, der mit seinen Riesenprojekten Lösungen vorschlägt und die Probleme gleich mitliefert, ob es eine begrünte Müllverbrennungsanlage oder eine schwimmende Stadt ist. Auch von Borries scheint sich nicht ganz sicher, ob bei Ingels Zynismus oder Naivität am Werk sind.

Mittlerweile sind sich viele Akteur*innen einig, dass es im Anthropozän ums Überleben geht. Man muss anders bauen. Vielleicht ist die neue Aufgabe der Architektur auch, gar nicht mehr zu bauen. Aber Verantwortung zu übernehmen ist nicht so leicht, doch von Borries vertraut auf die Fähigkeit der Menschen zum Anderswerden. Dass er davon erzählen kann, ist schon ein erster Schritt.

Architektur im Anthropozän. Eine spekulative Archäologie Friedrich von Borries Suhrkamp Verlag 2024, 464 S., 32 €



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Von Veritatis

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