Katharina Pistor begrüßt die Abkehr von zwei politischen Tabus in Deutschland, die Investitionen jahrelang behindert haben. Jetzt müsse Europa eine positive Vision von Autarkie und eine „antifaschistische Wirtschaftspolitik“ entwickeln


Katharina Pistor, Professorin für vergleichende Rechtswissenschaft an der Columbia Law School in New York

Foto: Lukas IIgner/Verlagsgruppe New/picture alliance


Deutschland hat gerade eine weitere Zeitenwende angekündigt, also eine Abkehr von lange bestehenden Überzeugungen zugunsten neuer, vielversprechender Strategien. Diesen Begriff verwendete Bundeskanzler Olaf Scholz, als er am 27. Februar 2022, wenige Tage nach der vollständigen Invasion der Ukraine durch Russland, die Situation beschrieb. Er versprach die Mobilisierung von Ressourcen, um die ukrainische Bevölkerung und die demokratischen Werte, für die sie kämpften, zu unterstützen. Doch so bedeutsam diese Ankündigung auch war, sie ging nicht mit einer Neuausrichtung des deutschen Finanzsystems und einer Abkehr von der geldpolitischen Orthodoxie einher.

Behindert durch die Schuldenbremse, die die jährliche Kreditaufnahme auf 0,35 Prozent des BIP b

beschrieb. Er versprach die Mobilisierung von Ressourcen, um die ukrainische Bevölkerung und die demokratischen Werte, für die sie kämpften, zu unterstützen. Doch so bedeutsam diese Ankündigung auch war, sie ging nicht mit einer Neuausrichtung des deutschen Finanzsystems und einer Abkehr von der geldpolitischen Orthodoxie einher.Behindert durch die Schuldenbremse, die die jährliche Kreditaufnahme auf 0,35 Prozent des BIP beschränkt und erst 2009 in die deutsche Verfassung aufgenommen wurde, kam das Land nur mühsam voran. Während der Ukraine schwer zugesetzt wurde, die deutsche Infrastruktur zerbröselte und die früheren Klimaschutzverpflichtungen auf der Strecke blieben, rühmte sich das Land seiner fiskalpolitischen Vorsicht. Viele Beobachter erkannten zwar, dass die selbstgewählte neoliberale Zwangsjacke zu einem der größten Probleme Deutschlands geworden war, doch die Bemühungen, sich davon zu befreien, wurden blockiert, unter anderem von der Christlich Demokratischen Union (CDU), die maßgeblich an der Einführung der Schuldenbremse beteiligt war.Glücklicherweise hat die CDU endlich einen Sinneswandel vollzogen. Der Anstoß dazu kam aber nicht etwa durch den Wahlsieg der Partei im vergangenen Monat, sondern durch Donald Trumps Kehrtwende in der US-Außenpolitik. Als ob die offene Verachtung Europas durch US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar nicht schon schlimm genug gewesen wäre, pöbelten er und sein Chef später auch noch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office an, bevor sie ihm unhöflich die Tür wiesen.Dieses bestürzende Schauspiel veranlasste den CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzler in spe, Friedrich Merz, zu der Forderung, Europa müsse seine Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten beenden. Er spricht sich klar für die Schaffung eines neuen europäischen Sicherheitsnetzes und die Abkehr vom bisherigen deutschen Fiskalregime aus. Am 4. März kündigte die CDU zusammen mit ihrem Junior-Koalitionspartner, den Sozialdemokraten, eine Lockerung der Schuldenbremse an. Deutschland wird hunderte Milliarden Euro aufbringen, um in sein vernachlässigtes Militär und seine Infrastruktur zu investieren.Schuldenbremse ganz abschaffenAber so mutig das auch klingen mag, es ist doch weit von der offenkundigen Lösung entfernt: nämlich die Schuldenbremse ganz abzuschaffen. Es gibt keinen Grund, den Regierungen bei der notwendigen Erhöhung der Militär- und Infrastrukturausgaben die Hände zu binden. Was passiert außerdem, wenn der künftige Bedarf noch mehr Investitionen erfordert, auch für andere Zwecke, aber die für Verfassungsreformen erforderliche Zweidrittelmehrheit außer Reichweite liegt?Ihre Entstehung verdankt die Schuldenbremse dem neoliberalen Misstrauen gegenüber Regierungen – und gegenüber den Menschen, die Regierungen an die Macht bringen. Je stärker die Macht über Geld und Finanzen von den Menschen und ihren gewählten Vertreterinnen und Vertretern auf Märkte und unabhängige Agenturen übertragen werden kann, desto besser.Es liegt auf der Hand, dass dieser Impuls zutiefst antidemokratisch ist, da er den Staat eines seiner herausragendsten Vorrechte beraubt: nämlich der Macht über die öffentlichen Finanzen. Ironischerweise haben die deutschen Kläger in ihren wiederholten Versuchen, die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in die Schranken zu weisen – oft mit dem Segen des deutschen Verfassungsgerichts – genau dieses Argument angeführt, als sie gegen die EZB mobil machten. Und dennoch haben sich deutsche Neoliberale offen dem antidemokratischen Impuls der Schuldenbremse verschrieben.Glücklicherweise ist der Gerichtshof der Europäischen Union bei diesen Verfahren nicht in die Falle getappt. Wäre dem so gewesen, hätte die EZB keine Möglichkeit mehr gehabt, im Falle von Finanz- und Gesundheitskrisen die Geldmenge zu erweitern. Schlimmer noch, aufgrund der Kombination aus rigider Fiskal- und Geldpolitik wäre Austerität die einzige Option gewesen – ein Rezept für die Art von politischer Radikalisierung, die uns den Brexit beschert hat.Monetäre FinanzierungDies bringt uns zu einem zweiten Tabu, das fallen muss: die Abneigung gegen monetäre Finanzierung. Diese gilt weithin als Rezept für Inflation und verantwortungslose Staatsführung, hat aber in Wirklichkeit vielen Ländern geholfen, mit enormen, unerwarteten Ausgaben fertig zu werden. Zu den Gründen für diese höheren Ausgaben zählten unter anderem Kriege, Finanzkrisen und Pandemien, wie Will Bateman von der Australian National University und Jens van ‚t Klooster von der Universität Amsterdam in einem Aufsatz über das „dysfunktionale Tabu“ zeigen.Seltsamerweise ist in dem Positionspapier, das die künftige Regierung unter Merz‘ Führung zur Unterstützung ihrer geplanten fiskalischen Zeitenwende vorlegte, keine Rede von monetärer Finanzierung. Darin wird erklärt, wie sich das Vereinigte Königreich in den 1930er Jahren selbst der Fähigkeit beraubte, wirksam gegen Hitler-Deutschland vorzugehen, weil es der fiskalischen Vorsicht Vorrang vor der Verteidigungsfähigkeit einräumte. Zur Frage, wie die Siegermächte den Krieg finanzierten, ist jedoch wenig zu lesen. Zwar wurden in den USA die Steuern erhöht, Bürgerinnen und Bürger kauften Kriegsanleihen und Finanzintermediäre investierten in Staatsanleihen, aber ohne den Kauf erheblicher Mengen kurzfristiger US-Schuldverschreibungen durch die Federal Reserve und die Steuerung der Zinssätze hätten diese Lösungen nicht ausgereicht.Placeholder image-1Die Frage lautet also, ob die EZB bereit ist, die Finanzierung von Investitionen in die Verteidigung und andere kritische Bedürfnisse durch Staatsschulden zu unterstützen. Angesichts der Schwierigkeiten der Regierungen, in einer Welt der Kapitalmobilität Steuern zu erheben, wird dies von entscheidender Bedeutung sein.Glücklicherweise hat die EZB seit der Finanzkrise von 2008 und der Zeit danach, als sie sich weigerte, irische und griechische Schulden zu refinanzieren, eine Menge dazugelernt. Während der Covid-19-Krise hat sie Mut bewiesen und Liquidität bereitgestellt, als niemand sonst dazu in der Lage war. Da diese Maßnahmen vor Gericht nicht ernsthaft angefochten wurden, sollte die EZB erkennen, dass sie heute über mehr politische und rechtliche Flexibilität verfügt als früher.Es bedurfte einer Pandemie und der Gefahr eines Krieges, um an diesen Punkt zu gelangen, aber nun könnte Deutschland endlich in der Lage sein, die beiden Tabus – Verschuldung und monetäre Finanzierung der Haushalte – aufzugeben, die die Regierungen jahrzehntelang im Würgegriff hielten. An die Stelle rigider Dogmatik sollte ein pragmatischeres Management der fiskal- und geldpolitischen Angelegenheiten treten. Gefragt ist nun eine von der Wirtschaftswissenschaftlerin Isabella M. Weber von der University of Massachusetts so bezeichnete „antifaschistische Wirtschaftspolitik“.



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Von Veritatis

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