Der Urvater der Linken als Befürworter der Aufrüstung? In der heutigen Situation hätte sich Karl Marx anders verhalten, als viele Linke es tun, sagt der Sozialwissenschaftler und Marx-Forscher Timm Graßmann


Noch immer gefragt: Party in Chemnitz vor dem Marx-Monument zum Auftakt des Jahres als Europäische Kulturhauptstadt

Foto: Jan Woitas/dpa/picture alliance


der Freitag: Herr Graßmann, in Ihrem Buch „Marx gegen Moskau“ beschäftigen Sie sich mit der russischen Autokratie des Zarenreichs. Inwiefern setzte sich Karl Marx gegen diese Autokratie ein?

Timm Graßmann: Marx warb immer wieder für eine finanzielle Entkopplung von Russland und im Krimkrieg der 1850er Jahre für ein militärisches Engagement der Westmächte, um Russland zurückzuschlagen. Am wichtigsten ist aber sein durchgängiger Einsatz für die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staats. Russland beherrschte damals weite Teile Polens militärisch, was auch Gebiete der heutigen Ukraine, Belarus und Litauens umfasste. Die polnische Unabhängigkeitsbewegung war damals recht stark. Marx sieht den polnischen Wid

tauens umfasste. Die polnische Unabhängigkeitsbewegung war damals recht stark. Marx sieht den polnischen Widerstand als ein kämpfendes Subjekt, das sich gegen die russische und natürlich auch preußische Herrschaft zur Wehr setzt und dessen Ziele er vollkommen teilt.Wie passt eine sozialistische Haltung zu einem nationalen Projekt?Das waren nicht immer sozialistische Polen, aber es waren gute Demokraten, mit denen Marx zusammenarbeitete. In einem wiederhergestellten Polen sah er ein Mittel, um die Expansionsbestrebungen des konterrevolutionären Russlands einzudämmen. Übrigens: Am Ende seines Lebens sieht Marx in Russland selbst revolutionäres Potential. Dann lernt er Russisch, findet russische Genossen und liest dutzende Bücher, weil er denkt, dass die Bauern dort nicht mehr lange ihre Überausbeutung mittragen würden.Sie haben das Buch letztes Jahr im Oktober veröffentlicht. Wieso ist es noch relevant, wenn Marx schon 142 Jahre tot ist?Der Konflikt, den wir spätestens seit dem 24. Februar 2022 sehen, ist dem Inhalt nach identisch mit dem, was Marx beschrieben hat. Man hat einen übergriffigen, autokratisch verfassten russischen Staat, der gerne wieder Imperium sein will, der gezielt die reaktionären Kräfte im Westen unterstützt und versucht, die demokratischen Republiken in Osteuropa zu zerstören. Natürlich haben sich die Form und der Kontext geändert und heute ist es ein ganz anderer historischer Moment, aber dies ist der Grundkonflikt. Daneben gibt es mindestens zwei weitere große Parallelen: einmal die Rolle des Westens in diesem Konflikt und dann die Rolle der westlichen Linken, die beide eher Teil des Problems als Teil der Lösung sind.Sie ziehen den Vergleich zwischen dem Polen von damals und der Ukraine von heute. Wie nahm denn Marx die Ukraine wahr?Im Gegensatz zu Polen ist das ukrainische Nationalbewusstsein Mitte des 19. Jahrhunderts nicht so stark. Ukrainisch ist meist verboten, die Ukrainer sind überwiegend Bauern und haben, anders als die Polen, keine starke Stimme in Westeuropa. Aber Marx und Engels erkennen an, dass in der Region eine eigene Nation mit eigener Sprache und einer demokratischen Tradition lebendig ist. Marx schreibt in einer Artikelserie, die die Ursprünge der russischen Autokratie in Moskau behandelt, dass Kyjiw seinen eigenen Weg gegangen sei. Über die eigenständige Geschichte der Ukraine informiert er sich näher bei Mykola Kostomarow, der heute in der Ukraine als einer der ersten großen Nationalhistoriker gilt und der gleichzeitig auch Historiker der Bauern im Russischen Reich war. Marx liest bei Kostomarow über die Kämpfe der ukrainischen Kosaken-Republik um Unabhängigkeit von Moskau und von Polen.Sie konstatieren bei Russland eine geschichtliche Kontinuität in der Außenpolitik, die zu Expansionismus tendiere. Gab es da nicht mal einen Bruch? Inmeinem Buch untersuche ich nicht den weiteren Verlauf der russischen Geschichte. Aber natürlich wird die Frage immer wieder gestellt und mir scheint, dass es bis heute zu keinem konsequenten Bruch mit dieser imperialen Tradition in Russland gekommen ist.Auch nicht in der Sowjetunion? Mit der Sowjetunion gibt es tatsächlich einen Einschnitt, das Zarentum wird abgeschafft. Trotzdem würde ich sagen, war die Sowjetunion politisch betrachtet eine Form, in der das alte Imperium aufgehoben oder bewahrt worden ist. Auch wenn man da unterschiedliche Vorgehensweisen beobachten kann, mit denen das versucht worden ist. Es gibt die Nationalitätenpolitik von Lenin, die den einzelnen Sowjetrepubliken kulturelle Autonomie zugestand. Das kann man in Teilen als einen „soft power approach“ verstehen. Und dass das angeblich zu freundlich war, ist ja auch, was Putin heute kritisiert, wenn er sagt, Lenin habe die Ukraine erfunden. Auf Lenin folgte bekanntlich Stalin und der toppte alles, was Marx aus dem Zarenreich kannte. Stalin als guter Imperator ist nun wiederum eine Bezugsfigur im Putinismus.Und wo war der Expansionismus in den 1990ern, nach dem Zerfall der Sowjetunion?Damals gab es eine demokratische Verfassung und ein Parlament. Es dauerte leider nicht lange, bis der Backlash kam. Da muss man nicht erst auf Putin warten. Schon Gorbatschow schickte Panzer nach Vilnius und Jelzin ließ mit ihnen auf das eigene Parlament schießen. Auch der Krieg in Tschetschenien unter Jelzin war ein Krieg, der sagte: Wir bleiben Imperium. Trotzdem will ich jetzt auch nicht sagen, es gibt 500 Jahre lang eine Linie, die alles determiniert.Lenin hat 1914 gesagt, dass Russland hinter Großbritannien die zweitgrößte Kolonialmacht der Welt sei. Warum fällt es westeuropäischen Linken, damals wie heute, schwer, Russland nicht als Kolonialmacht zu sehen? Warum kritisieren sie Russland nicht so gerne?Nicht alle Leute sind furchtbar begeistert von Russland, aber es gibt wahrscheinlich zwei Kontinuitäten. Die eine ist, dass viele Linke im Kapitalismus den Hauptgegner sehen und ihnen die Staatsformen egal sind. Autoritäre politische Herrschaft wird schlichtweg nicht als ebenbürtiger Gegner betrachtet. Ironischerweise waren es vor allem Sozialisten aus England und Frankreich – zwei politisch fortgeschrittenen Ländern – die nicht mit Marx’ Polen-Politik einverstanden waren. Warum wollen die Osteuropäer bloß das, was wir schon haben und das wir kritisieren? Das Zweite ist, dass Russland damals noch nicht kapitalistisch war und insofern nicht als Gegner erschien, sondern womöglich sogar als Verbündeter im Kampf gegen das Kapital. Das ist ähnlich wie heute – manche denken, Putin kontrolliert die Oligarchen, der ist also immerhin nicht liberal und ein Gegengewicht zum Westen.Die meisten Linken wissen, dass Putin keiner von ihnen ist. Sie warnen aber vor Säbelrasseln. Ist ihre Angst vor einem großen Krieg nicht verständlich?Natürlich, auch Marx ging es letztlich um eine friedliche Welt – wobei es für ihn keinen Frieden ohne Freiheit geben konnte. Daher unterstütze er zum Beispiel im Amerikanischen Bürgerkrieg die Nordstaaten in ihrem „Krieg gegen die Sklaverei“. In den 1860er Jahren gibt es einen Friedenskongress, der eine allgemeine Abrüstung in Europa fordert. Verschiedene Sozialisten, auch Bakunin, sind dabei, aber Marx sagt zu seinen Leuten, auf keinen Fall können wir da mitmachen bei diesen „Friedenswindbeuteln“. Er begründet das mit der Existenz eines reaktionären Militärstaats in Europa, der systematisch versucht, sein Herrschaftsgebiet auszudehnen. Marx spricht an der Stelle von „der Notwendigkeit der Armeen vis à vis Russland“.Und Atomwaffen? Sind das nicht legitime Einwände?Ich weiß nicht, ob sich alle emanzipatorischen Bestrebungen nuklear erpressen lassen sollen. Atomstaaten haben schon Kriege „konventionell“ verloren, ohne auf die vernichtende Kraft ihrer Atomwaffen zurückzugreifen – man sollte die Gründe dafür untersuchen. Mir scheint, dass gerade die halbherzige Ukraine-Unterstützung der Periode Biden/Scholz für die jetzige Gefahr einer Ausweitung des Krieges mitverantwortlich ist. Mit Marx gedacht macht es jedenfalls keinen Sinn, einfach zu fordern: Wir wollen die Abschaffung aller Herrschaft, wir wollen den Kommunismus, wir wollen den Frieden. Man muss darüber nachdenken, wie man das erreichen kann.Marx hat in der Vereinigung der Arbeiterklasse über Landesgrenzen hinweg eine Bedingung für eine friedliche Welt gesehen. Aber Russland war eine Macht, die ausrückte, um fortschrittliche Bewegungen auf fremdem Territorium niederzuschlagen. Deshalb musste man Polen wiederherstellen und dafür brauchte man wahrscheinlich Waffen.Jetzt sagen Linke: Wir wollen zwar eine unabhängige Ukraine, aber wir werden nicht an der Seite von Ursula von der Leyen 800 Milliarden in die Kriegsmaschinerie investieren. Denn mit diesem Geld würden wir den Hauptfeind im eigenen Land, die Kapitalisten, unterstützen, zuallererst Rheinmetall und Thyssenkrupp. Was entgegnen Sie?Der Hauptfeind steht im eigenen Land, das haben die Leute schon zu Marx gesagt. Die meinten, es braucht gar keine Außenpolitik. Marx entgegnet: Du kannst ja weiter deine eigene Regierung kritisieren, zum Beispiel in der Sozialpolitik, aber die Welt ist nun mal als internationales Staatensystem organisiert. Es gibt eben noch Feinde außerhalb des eigenen Landes.Heutzutage ist das ja verwoben, wenn in der Sozialpolitik mit der Begründung gespart wird, dass wir unsere Armee aufbauen müssen. Da würde Marx doch feststellen, dass sich hier unter falschem Vorwand etwas entwickelt, das nicht dem Ziel nützt, welches vorgegeben wird, nämlich dem Frieden in der Ukraine.Man sollte sich ehrlich machen: Sich abstrakt gegen die Verteidigungsfähigkeit Europas zu stellen, bedeutet praktisch, Putin ganz Osteuropa zum Fraß vorzuwerfen. Aber es ist ein berechtigter Einwand: Soll Deutschland etwa allein seine Armee wieder aufpäppeln? Da könnte man als Linker ja sagen: Nein, das muss in einer akzeptablen, etwa europäischen Form passieren – und vor allem muss es der Verteidigung der Ukraine zugutekommen. So machen es die Linken in Finnland, die bei der letzten Europawahl über 17 Prozent bekommen haben. Sie sehen ihre Aufgabe nicht darin, die NATO kaputtzumachen, was ja ohnehin jetzt Trump übernimmt. Sie wollen stattdessen dafür sorgen, dass die NATO oder eine europäische Armee wirklich ein Verteidigungsbündnis und nicht selbst Instrument des Chauvinismus werden. Das scheint mir in die richtige Richtung gedacht.Sind Forderungen nach verstärkten diplomatischen Bemühungen nicht doch zielführender?Putins Ambitionen sind nicht auf die Ukraine beschränkt. Im Raum steht jetzt nicht weniger als eine Neuaufteilung der Welt zwischen Russland und Trump. Die Linkspartei schlägt eine Art „Antifaschismus in einem Land“ vor: AfD bekämpfen: Ja, Waffenlieferungen für die Ukraine: Nein. Diejenigen, die sich gegen den russischen Faschismus zur Wehr setzen, die wollen wir nicht unterstützen. Aber das wird so nicht funktionieren. Du wirst die AfD nicht besiegen, solange dieses Putin-Regime sein Unwesen treibt. Es braucht einen Antifaschismus, der Innen- und Außenpolitik miteinander verbindet.Die Linkspartei hat immerhin vorgeschlagen, dass die Ukraine einen Schuldenschnitt bekommt – eine Maßnahme, die andere Parteien nicht fordern. Muss man nicht befürchten, dass deren Intention ist: Wir unterstützen die Ukraine zwar militärisch, wollen im Zweifelsfall aber unser Geld zurück und eventuell einen Rohstoffdeal wie die USA?Klar, so wenig wie die Linke selbst nicht Sozial- gegen Sicherheitspolitik ausspielen darf, müsste sie aufpassen, dass andere nicht Sicherheits- gegen Sozialpolitik ausspielen. Im Übrigen liegen die Unterschiede zwischen Trump und der EU doch auf der Hand. Trump hat offen gesagt, Selenskyj, verkauf mir dein Land! Die EU dagegen hat sich vor 2022 nie so richtig für die Ukraine interessiert. Und an der Frage, ob die Ukraine sich der EU oder der „Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft“ anschließen möchte, hat sich das alles doch entzündet. Die Ukrainer haben aus nachvollziehbaren Gründen gesagt: Wir wollen nach Europa und uns nicht Russland unterordnen. Da würde ich einfach auf deren Entscheidung verweisen.Sie haben Vorträge u. a. in Istanbul, Wien oder Leipzig gehalten. Wieso findet Marx heute noch Gehör? Auch wenn die Arbeiterbewegung als „revolutionäres Subjekt“ zu schlafen scheint, umtreibt die Frage der Emanzipation einige Leute immer noch. Sie fragen sich, wie kann man eine Welt ohne Klassen, ohne tyrannische Herrschaft, vielleicht sogar ohne Grenzen und mit Frieden errichten? Marx bleibt einer der originellsten und avanciertesten Denker in diesen Dingen.Wenn er heute in einer Talkshow säße, würde er allerdings nicht als Visionär, sondern vermutlich als Spinner wahrgenommen werden, oder?Naja, Marx konnte eigentlich ganz charmant und überzeugend sein. Aber tatsächlich ist er zu Lebzeiten ja aus diversen Ländern rausgeworfen worden. Deswegen waren für ihn auch diese bürgerlichen Freiheiten sehr wichtig: Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Er wusste genau, was autoritäre politische Herrschaft heißt.Was bleibt also von Marx?Verglichen mit der Häufigkeit, mit der man seinen Namen im Mund führt, wurde Marx recht wenig beziehungsweise äußerst selektiv gelesen. Seine Begeisterung für Polen ist generell nicht so bekannt, und sein politisches Denken wird unterschätzt. Gregor Gysi war neulich in Trier und hat sich dort sinngemäß darüber beschwert, dass es banausenhaft sei, wie die Bürger mit Marx, diesem „großen Ökonomen“ umgehen. Ich würde entgegnen: Der Umgang vieler Linker mit dem politischen Denken von Marx spiegelt bloß das Banausentum der Bürger. Wer vom russischen Faschismus schweigt, dem nehme ich auch die Kapitalismuskritik nicht ab.



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Von Veritatis

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