Ist es zu naiv, in der Politik Ehrlichkeit zu erwarten? Donald Trump interessiert das nicht, und Friedrich Merz ist da äußerst flexibel. Doch Wahrhaftigkeit kann trotzdem zu einem radikalen Akt werden


Lügen haben kurze Beine oder waren es lange Nasen?

Montage: der Freitag, Material: Imago Images


Noch vor wenigen Wochen stand Friedrich Merz vor den deutschen Wähler:innen und wetterte mit jener Mischung aus Ernst und Hochmut, die deutsche Konservative so gerne für Prinzipientreue halten, gegen jeden Versuch, die Schuldenbremse zu lockern. Die Union, so hieß es, sei die letzte Bastion gegen den „Linksruck“ in diesem Land, gegen den staatlichen Schuldenrausch, gegen eine „Selbstbedienungsmentalität“, gegen die angeblich so freizügig nach Steuergeld greifende Hand ihrer politischen Gegner.

Und dann – Schnitt – „a few moments later“: Noch ehe die Tinte unter dem frisch verhandelten Koalitionsvertrag trocknen konnte, ist Merz dort gelandet, wo auch schon seine Vorgänger immer landeten, wenn es darum ging, durch

handelten Koalitionsvertrag trocknen konnte, ist Merz dort gelandet, wo auch schon seine Vorgänger immer landeten, wenn es darum ging, durch die Schwerkraft der Realpolitik auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Der vollmundig zur Schau gestellte Fiskal-Moralismus entpuppt sich unüberraschenderweise als taktisches Blendwerk – bei eben genau jenen „Taschenspielertricks“, die er noch vor Wochen als Offenbarungseid gebrandmarkt hatte. Plötzlich war doch alles möglich, ein Sonderfonds für die Bundeswehr, 500 Milliarden-Euro-Infrastrukturpakete, eine Zusammenarbeit mit den Grünen.Man könnte und sollte dieses Umschwenken als Wählertäuschung bezeichnen. Aber im Grunde folgt es einem altbekannten Muster: Prinzipien scheinen unerschütterlich, bis sie an den Notwendigkeiten der Realität zerbrechen. Erst laute Selbstgerechtigkeit, dann leises Umfallen – das natürlich nicht als Einknicken, sondern als pragmatische Anpassung verkauft wird – oder als eine Haltung, die schon immer dagewesen sein soll. Was wir hier erleben, ist die gewöhnliche Demonstration, dass politische Wahrheit nicht unbedingt etwas mit faktischer Wahrheit zu tun hat. Hannah Arendt nannte es einst den „schlechten Stand“, in dem sich Wahrheit und Politik zueinander verhalten.In ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ beschäftigte sich Arendt mit dem Spannungsfeld zwischen der Suche nach Wahrheit und politischer Machbarkeit, die stete Friktion ergibt sich aus dem vermeintlichen Widerspruch, dass Demokratie ohne ein Mindestmaß an faktischer Redlichkeit nicht existieren kann, Macht ohne Wahrheitsanspruch hingegen sehr gut.Können Politiker überhaupt Ehrlichkeit?In Wahrheit hat Politik an der Wahrheit nie ein Interesse. Spätestens seit der Systemtheorie und ihrem wichtigsten Denker, dem Soziologen Niklas Luhmann, wissen wir: In der Politik geht es um Macht, nicht Wahrheit – diese ist laut Luhmann im System der Wissenschaft die Währung. „Für das Handeln, das entscheidet, wie es weitergehen soll, sind Tatsachen keineswegs notwendig“, erklärt Arendt. Ist es also naiv, von Politikern Ehrlichkeit zu erwarten? Oder ist gerade die pragmatische Resignation gegenüber der politischen Lüge der eigentliche Verrat an der Demokratie? In seinem Buch „Jeder Mensch“ (2021) fordert der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach sechs neue Grundrechte für Europa, die er als Utopien bezeichnet. Er meint, dass die bestehenden EU-Grundrechte nicht mehr zeitgemäß seien und an die Herausforderungen der Gegenwart angepasst werden müssten.In seinem vierten Artikel heißt es: „Artikel 4 – Wahrheit: Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ Demokratie und Rechtsstaat sollen gestärkt werden, indem die Bürger sich auf die Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit ihrer politischen Vertreter verlassen können, da Wahrheit eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft ist, die auf Fakten, Vernunft und Dialog basiert.Eine politische Wahrhaftigkeit einzufordern ist also nicht mal eine Frage der Ethik, sondern der Pragmatik, nicht nur eine Frage eines guten Lebens, sondern die Notwendigkeit für ein Überleben. Arendt meinte, dass man sich eine Welt ohne Freiheit vorstellen könne, aber nicht ohne Wahrheit. Wahrheit sei das Fundament unseres Zusammenlebens. Und gerade weil wir uns eine Welt ohne Wahrheit kaum vorstellen können, weil wir intuitiv begreifen, dass Wahrheit eine universelle Notwendigkeit unserer Existenz ist, wird die Lüge überhaupt erst möglich.Gut gelogen, Löwe: Loser mit Geld und TraumfrauEin anschauliches Beispiel dafür bietet die Komödie The Invention of Lying (2009) mit Ricky Gervais (deutscher Titel: Lügen macht erfinderisch). Der Film spielt in einer Welt, in der es keine Lügen gibt – bis der Protagonist zufällig entdeckt, dass er durch Lügen enorme Vorteile erlangen kann. Zum Beispiel, wenn man in der Bank einfach behauptet, dass man mehr Geld auf dem Konto hat, als der Computer der Bankangestellten anzeigt.Plötzlich wird ein Loser zu einem gemachten Mann mit Geld und Traumfrau. Im Grunde ist das auch die Geschichte von Donald Trump. Ein Blick in die amerikanische Gegenwart zeigt die dystopische Konsequenz: Trump hat die Lüge zu seinem Markenzeichen gemacht. Sein Prinzip: niemals zurückrudern, sondern die Unwahrheit so oft wiederholen, bis sie eine Art faktische Gleichwertigkeit zur Wahrheit erhält. Der irische Satiriker Jonathan Swift brachte es bereits im 18. Jahrhundert in seinem Essay „The Art of Political Lying“ auf den Punkt: „Eine Lüge, wenn sie nur eine Stunde lang geglaubt wird, hat ihr Werk getan.“Die Lüge fliege davon und die Wahrheit komme nicht hinterher, sodass es zu spät sei, wenn die Menschen die Wahrheit erfahren. Gibt man dieser Asymmetrie der Wirkgeschwindigkeit ein paar Ketamine und Monetarisierungsmöglichkeiten, erhalten wir das Vermittlungsprinzip sozialer Netzwerke. Und das Handlungsprinzip etlicher Politiker:innen. In Trumps postfaktischer Parallelwelt existieren Wahrheit und Lüge nicht mehr als Gegensatzpaare, sondern als schwebende Möglichkeiten einer Realität, die sich jeder Überprüfung entzieht, richtig ist, was Macht verfestigt, wahr ist, was politisch funktioniert.Warum aber fallen wir auf diese Mechanismen herein? Keiner wird gerne belogen und dennoch nehmen wir mit unterspanntem Gleichmut hin, dass wir immer wieder getäuscht werden. Die simple Antwort: Weil es geht. Die komplizierte: Weil diese Mechanismen, die uns eigentlich schützen sollten, gegen uns arbeiten.Ein Grund liegt in unserer psychologischen Konstitution. Die Empirie zeigt, dass wir dazu neigen, Aussagen zu glauben, selbst wenn der Kontext Zweifel weckt. Unsere Tendenz zur Gutgläubigkeit ist eine evolutionäre Errungenschaft – aber eben auch eine Schwachstelle. In Jäger- und Sammlergesellschaften war es überlebensnotwendig, den Signalen anderer zu vertrauen.Die Wahrheit muss nicht ständig wiederholt werdenWer in freier Wildbahn erst Beweise dafür verlangte, dass sich tatsächlich ein Tier nähert, wurde nicht alt. Heute wird dieses Urvertrauen in der digitalen Informationsflut systematisch ausgenutzt, weil es äußerst lukrativ ist. Unsere Denkweise, die ursprünglich zum Überleben diente, ist dadurch zu einer Schwachstelle geworden, denn es bedingt auch, dass wir umso mehr einer Lüge bereit sind zu glauben, je häufiger wir sie hören.Die Wahrheit hat hier einen entscheidenden Vor- wie Nachteil: Im Gegensatz zur Lüge muss sie nicht ständig wiederholt werden, um wahr zu bleiben.Hinzu kommt ein weiterer Mechanismus, der insbesondere im modernen Tribalismus erfolgreich greift: der Bestätigungsfehler. Menschen tendieren dazu, nur das zu glauben, was ihre bestehenden Überzeugungen bestätigt. Lügen, die ins eigene Weltbild passen, sind daher besonders erfolgreich. Die Sozialwissenschaft beschreibt dies als „Motivated Reasoning“. Wahrnehmungspsychologisch beeinflussen wir die Bewertung der Richtigkeit von Informationen mit der impliziten Agenda unserer Einstellungen. Soziale Netzwerke und Massenmedien nutzen dies oder profitieren zumindest davon, indem nicht die Wahrheit, sondern die Viralität von Inhalten priorisiert wird.Das motivierte Denken greift besonders in politisch unsicheren Zeiten, nicht nur das, Menschen sind anfällig für „politische Dreistigkeit“. Je absurder eine Lüge, desto schwerer fällt es, sich vorzustellen, dass jemand sie einfach erfunden hat. Die Krassheit einer absurden Aussage, die berechtigterweise unseren Zweifel weckt, wird einfach verrationalisiert und zugunsten unseres Glaubenwollens mit der Kraft der Vernunft für wahr befunden. Der Psychologe Ron Riggio nennt dies die „Politik der Unverschämtheit“, die stärker wirkt, je mächtiger die:der Politiker:in ist, die diese anwendet.Bedürfnis nach kratziger WahrheitDenn: je mächtiger, einflussreicher und einkommensstärker die Person, von der die Lüge stammt, desto größer unser Identifikationswunsch mit dem Täuschenden – und umso nachgiebiger unser hermeneutisches Wohlwollen, um ihn nicht überführen zu müssen – und uns damit gleich mit. Wir glauben also oftmals nicht, weil wir es müssen, sondern weil wir es insgeheim wollen. Der Wunsch nach einer Kohärenz in der Identifikationssehnsucht überwiegt hier das Bedürfnis nach der kratzigen Wahrheit.Diese Gleichgültigkeit in Anbetracht der politischen Lüge beschreibt die Essayistin Caitlin Dewey „Post-Truth-Nihilismus“ und bezieht sich hier auf eine ernüchternde, schwerblütig machende Gegenwartsanalyse des amerikanischen Journalisten Charlie Warzel. Er leitet seinen Text mit den Worten „Mir fehlen die Worte, um zu erklären, wie schlimm das ist“ ein und konstatiert, dass es uns inzwischen schlicht egal ist, ob wir angelogen werden. Es könnte ja alles so sein, wie von den Lügenden behauptet, warum also aufregen, nur weil es gerade nicht stimmt?Waren wir während der ersten Trump-Amtszeit und nach dem Brexit noch alarmiert über den Umstand, dass Menschen auf Fake News hereinfallen, und wurde diskutiert: schnell, mehr Medienkompetenzvermittlung an den Schulen, mehr Debunking, mehr Factchecking! – muss uns jetzt zutiefst verunsichern, wie gleichgültig einem Publikum inzwischen ist, ob überhaupt etwas wahr oder falsch ist. Die Wahrheit verliert ihren Wert, weil ihre Wichtigkeit im Ozean aus alternativen Fakten aufgelöst wird. Dieser postfaktische Zerfall ist keine abstrakte Bedrohung. Er gefährdet die Grundlage demokratischen Zusammenlebens: den gemeinsamen Realitätssinn.Wenn es keine Wirklichkeit mehr gibt, auf die man sich einigen kann, fehlt die Basis für politische Entscheidungen. Und genau darauf zielt der Post-Truth-Nihilismus ab: Die Institutionen, die Wahrheit bewahren, werden diskreditiert. Etablierte Medien, Wissenschaft oder Gerichte – sie alle werden als Teil eines feindlichen „Establishments“ stigmatisiert.Wir lassen uns belügen, weil wir Klarheit wollenDas könnte aber der Vorteil aller Wahrsprechenden werden, insbesondere in der Politik. Gerade weil die Lüge allgegenwärtig ist, kann radikale Ehrlichkeit zu einer provokanten, politischen Haltung werden. Wer sich dem opportunistischen Spiel verweigert, macht sich angreifbar – aber gerade darin liegt eine neue Form von Autorität.Ein Beispiel ist das Social Media Game von Ricarda Lang, ehemalige Vorsitzende der Grünen. Ihre Offenheit in sozialen Medien fällt neben der Lustigkeit auch deshalb auf, weil diese einen Seltenheitswert zu haben scheint. Ebenso wenn die Linke insbesondere im Wahlkampf und in politischen Talkshows durch eine sich nicht für ihre Ehrlichkeit entschuldigende Aufrichtigkeit auffällt. Und es fällt als Störung des Ablaufs deshalb auf, weil die Wahrheit in politischen Kommunikationsdispositiven eine Disruption darstellt. Die Ehrlichkeit schafft hier paradoxerweise eine neue Form von Inszenierungsmittel, sie druckt eine neue Währung in der Aufmerksamkeitsökonomie einer politischen Landschaft, in der die inflationäre Lüge den Wert der Wahrheit ins Unermessliche steigen lässt.Dass also Wahrhaftigkeit zum revolutionären Akt werden kann, ist genau die Spannung, die Politik auszeichnet: Wir lassen uns belügen, weil wir uns nach Klarheit sehnen. Und wir bewundern jene, die sich der Wahrheit stellen, weil wir in ihnen jene Integrität erkennen, die wir uns insgeheim selbst wünschen. Die Wahrheit wird so lange stören müssen, bis sie zur stärksten Form von Glaubwürdigkeit wird.



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Von Veritatis

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