Der Roman „Verzauberte Vorbestimmung“ von Jonas Lüscher („Frühling der Barbaren“) ist komplex, ausufernd und bietet Stoff für zehn Bücher. Damit will der in der Schweiz geborene Autor ein großes Meisterwerk schaffen. Aber gelingt ihm das?
In Anlehnung an die ganz Großen wie Hoffmann und Mann: der Schriftsteller Jonas Lüscher
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Wenn man den Stil des Buches Verzauberte Vorbestimmung beschreiben will, muss man einen langen Atem haben, um die zahllosen Schachtelsätze zu erfassen, die letzthin eine komplexe literarische Komposition, bestehend aus diversen Erzählebenen, widerspiegeln, wodurch wir – noch einmal Luft holen! – permanent den Eindruck haben, ständig durch verschiedene Jahrhunderte zu gleiten und vom einen zum anderen Ort zu wechseln.
Geschaffen hat diesen Thomas-Mann’schen Romandschungel der deutsch-schweizerische Schriftsteller Jonas Lüscher. Wo fängt man bei diesem ausufernden Text an? Wo hört man auf? Am besten beim Ich.
Wie sein vor einigen Jahren schwer an Covid erkrankter Autor lag dieses Ich wochenlang im künstlichen Koma. Eine Zeit, in der man in s
Eine Zeit, in der man in so manches Delirium gleiten kann, weshalb alles in dieser Prosa unter dem Vorbehalt des Fiebertraums steht.Lüscher erzählt verschlungen in der Tradition von E. T. A. HoffmannGewiss scheint zumindest: Der Erzähler befindet sich auf einer Reise. Quer durch Europa folgt er anfangs den Spuren des Autors Peter Weiss, um mehr über dessen Werk – und über sich selbst – zu erfahren.So weit zum oberflächlichen Plot, der sich sodann weiter verzweigt. Geschult am verschlungenen Erzählen von Romantikern wie E. T. A. Hoffmann, flicht der 1976 geborene Schriftsteller zahlreiche Geschichten ein. Wir landen mitunter bei den ausgebeuteten Webern, die uns bereits bei dem Naturalisten Gerhart Hauptmann als Opfer des beginnenden Raubtierkapitalismus im 19. Jahrhundert begegnen. In einer anderen Episode planen Fabrikarbeiter eine Revolte dagegen, dass sie vollends durch Maschinen ersetzt werden sollen.Es gibt Anklänge an das viel gelobte Debüt des Schriftstellers aus dem Jahr 2013, das für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis nominiert war. Frühling der Barbaren setzte sich ebenso kritisch mit unserem Wirtschaftssystem auseinander. Im neuen Roman scheint das Arrangement also auf einem klassischen Technikpessimismus zu basieren.Skeptische CyborgsDoch dieser Eindruck täuscht, weil Jonas Lüscher immer wieder auch die Ambivalenz des Fortschrittsdiskurses sichtbar macht: „Ausgerechnet ich, der ich doch so gern diese Technikskepsis vor mir hertrug“, bekennt, dass „mehr Cyborg kaum möglich“ ist. Denn der Autor und sein Alter Ego im Roman sind dem Tod nur durch die modernen Wissenschaften von der Schippe gesprungen.Auch eine andere Episode beleuchtet Fluch und Segen der modernen Wissenschaft. Hierin verliebt sich eine Komikerin in Kairo in eine Androidin. Es ist der Rausch ihres Daseins, die große Verzückung, deren helles Licht sich allerdings eintrübt, weiß doch die Robotergefährtin um ihr tragisches Schicksal.Sie kann nicht sterben, ihre Software wird stets erneut überspielt. Das, was einmal von Bedeutung war, könnte sich daher bald relativieren. Der einzige Ausweg besteht für beide also darin, den Datenträger mit dem Back-up zu finden und zu zerstören. Überleben und ewiges Leben, Endlichkeit und endloses Sein – diese Gegensätze liegen in Verzauberte Vorbestimmung eng beieinander.Ein schlauer literarischer Wurf?Obwohl Lüscher mit keinem Wort die Herausforderungen unserer Gegenwart explizit flankiert, steht der Roman doch ganz im Zeichen dieser Reflexion. Er liest sich als Kommentar zu Debatten um die Künstliche Intelligenz oder die Armut in der Konsumgesellschaft. Und nicht zuletzt wirft er ein Schlaglicht auf den Krieg.Ganz zu Beginn wird nämlich von einem Soldaten im Algerienkrieg berichtet, der mitten auf dem Schlachtfeld zu gehen beschließt. Andere werden ihm folgen, als wäre die Welt doch noch zu Utopien fähig.Ganz von der Hand zu weisen sind solche Visionen nicht. Vielleicht muss man dafür nur vereinzeltes Wissen verweben, was Lüschers Erzähler tut und womit zugleich die erwähnten Weber das Formprinzip des Romans abbilden. Verzauberte Vorbestimmung ist ein schlauer literarischer Wurf, könnte man sagen. Aber als die Schattenseite der Genialität erweist sich mithin die Überkonstruiertheit des Textes. Seine unzähligen Abschweifungen und manchmal nur schwer in den Gesamtzusammenhang integrierbaren Nebenschauplätze blasen das Werk auf und geben ihm zudem einen Anstrich von Bildungshuberei. Hier stecken zehn Romane in einem, und neun davon sind schlichtweg zu viel.Verzauberte Vorbestimmung Jonas Lüscher Hanser 2025, 352 S., 26 €