Vincent-Immanuel Herr bietet Workshops zu Gleichstellung an. Er hört sich an, was Männer wirklich über Frauen denken. Im Interview erzählt er, wie er Männer als aktive Verbündete für Gleichberechtigung gewinnt
Schluss mit Fingerspitzen! Liebe Männer, umarmt die Gleichstellung
Foto: Philotheus Nisch/Connected Archives; Sapna Richter (unten)
Männer als Male Allies und aktive Verbündete für mehr Gleichberechtigung? Für solche werben Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer. Über ihre Arbeit als Berater für Gleichberechtigung haben sie das Buch Wenn die letzte Frau den Raum verlässt geschrieben. Im Gespräch erzählt Herr von Privilegien, Widerständen und der Macht von Alphamännern.
der Freitag: Herr Herr, wie sind Sie darauf gekommen, Vorträge und Coachings zu Geschlechtergerechtigkeit gerade für Männer anzubieten?
Vincent-Immanuel Herr: Das Thema beschäftigt uns schon eine ganze Weile, bei mir gab es bereits feministische Debatten am Abendbrottisch mit meinen Eltern und meiner Schwester. Am Beispiel meiner Mutter habe ich früh gelernt: Frauen werden ande
und meiner Schwester. Am Beispiel meiner Mutter habe ich früh gelernt: Frauen werden anders behandelt als Männer, besonders dann, wenn sie Karriere machen wollen. Das hat sich damals ungerecht und falsch angefühlt und tut es heute natürlich immer noch. Bei meinem Kollegen Martin Speer war es gegenteilig. Er ist in einem konservativen und ländlichen Umfeld aufgewachsen. Diese Verschiedenheit der Wege hat uns gezeigt, wie wichtig es ist, Brücken zu bauen. Der Fokus auf reine Männergruppen hat sich aus diesem Interesse und dieser Spannung entwickelt, denn wer sich mit Sexismus und dem Fehlen von Geschlechtergerechtigkeit beschäftigt, erkennt schnell: Frauen kann man keinen mangelnden Einsatz vorwerfen. Männer hingegen zeigen viel zu wenig Engagement bei diesen Themen – und verstärken so, absichtlich oder unabsichtlich, eines der folgenschwersten Probleme unserer Zeit.Was ist anders, wenn nur Männer im Raum sind?Männer sprechen mit weniger Filter über Themen rund um Gleichstellung, Gender und Frauen. Sie sind zudem in der Regel deutlich kritischer und skeptischer, als wenn Frauen mit im Raum sind.Inwiefern?Ein Großteil der Männer in Deutschland hat erhebliche Sorgen und Vorurteile, was Frauen und Gleichstellungsmaßnahmen angeht. Rund 32 Prozent der Männer sind Gegner einer weiter gehenden Gleichstellungspolitik, und 31 Prozent halten stille Distanz, wie es die „Männer-Perspektiven“-Untersuchung anschaulich aufzeigt. Der stille männliche Widerstand wird in der Öffentlichkeit, aber auch in Unternehmen unterschätzt.Gibt es Unterschiede, je nach Firma oder Branche?Erstaunlicherweise sind die Unterschiede nicht groß. Natürlich gibt es Variationen, aber nach sechs, sieben Jahren, die wir solche Formate nun machen, können wir sagen: Die Art der Debattenführung, die Argumente und auch die Vorurteile und Sorgen unter Männern sind erstaunlich konsistent, ob man nun beim Mittelständler oder bei einem DAX-Unternehmen ist, an der Universität oder beim Militär.Die meisten Männer zweifeln die Existenz von Sexismus an, weil sie ihn selber nicht erleben.Sie fordern Männer auf, Allies, Verbündete, zu werden.Male Allyship ist ein großartiger Ansatz. Er ermutigt dazu, sich als Mann für eine Welt einzusetzen, in der auch unsere Schwestern, Mütter, Frauen und Kolleginnen sicher, frei, erfolgreich und froh unterwegs sein können. Ohne Männer als Verbündete für Frauen und gegen Sexismus erreichen wir das Ziel von Gleichstellung nicht. Aktuell halten Männer die meisten Führungspositionen in der Politik, der Wirtschaft, den Medien und der Kulturlandschaft. Männer haben enorme Reichweite und Einfluss auf soziale Normen und gesellschaftliche Debatten. Solange diese Gruppe beim Thema Geschlechtergerechtigkeit entweder gar nichts sagt oder sich sogar oppositionell aufstellt, kann sich nicht viel tun. Daher arbeiten wir besonders gerne mit Männern in Führungspositionen, denn: Hier ist der Hebel für nachhaltige Veränderung am größten.Können Männer auch Feministen statt nur Allies sein?Die Frage haben wir häufiger Frauen beziehungsweise Feministinnen gestellt. Die Antwort in den meisten Fällen: Männer sind im Feminismus sehr willkommen und werden sogar gebraucht, solange sie nicht auftauchen, um Frauen zu erklären, wie sie es besser machen könnten.Erleben Sie Vorurteile, wenn Sie oder Herr Speer sich als Feministen bezeichnen?Es gibt ab und zu hochgezogene Augenbrauen, aber auch Interesse und Neugier. Dieses Fehlen vieler negativer Reaktionen uns gegenüber ist Beispiel unseres männlichen Privilegs, denn Frauen erleben, nach dem, was wir so hören, deutlich mehr Widerstand oder auch Häme, wenn sie sich als Feministinnen bekennen. Was aber auch stimmt: Die meisten Männer würden sich selber nie als Feministen bezeichnen wollen. In dem Sinne lenkt der Begriff in Diskussionen manchmal leider ab. Der Begriff des männlichen Verbündeten hingegen zieht meist besser und weckt Interesse unter Männern, so nach dem Motto: „Oh, ein Verbündeter möchte ich auch sein.“Sie beschreiben im Buch, dass Männer oft bezweifeln, dass Frauen strukturelle Diskriminierung und Sexismus erleben.Unser bestes Erklärmodell: Die meisten Männer zweifeln die Existenz von Sexismus an, weil sie ihn selber nicht erleben. Wir wissen das aus eigener Erfahrung: Als zwei weiße deutsche Männer haben wir so viel Privileg, dass wir de facto nie diskriminiert werden. Eine eigene Erfahrung mit strukturellem Sexismus ist also nicht existent für uns. Wir mussten über viele Jahre hinweg von Frauen lernen, wie sich Sexismus anfühlt. Auch heute übersehen wir dabei sicherlich viele Aspekte. Sich dann als Mann vorzustellen, dass Frauen regelmäßig und in allen Lebensbereichen Nachteile erfahren, unterschätzt oder ausgegrenzt werden, wie sich Bedrohung anfühlt oder sexistische Witze – das erfordert ein hohes Empathievermögen und Perspektivwechsel.Auch Männer leiden unter Strukturen, in denen sie als Haupt- oder Alleinernährer vorgesehen sind.Wie überzeugen Sie Männer davon, Allies zu werden?Sobald wir das Problem von Sexismus persönlich machen, zeigen einige Männer eine höhere Bereitschaft, sich ehrlich damit auseinanderzusetzen und als Verbündete aktiv zu werden. Männer lernen dabei, dass Sexismus nicht nur weit weg ist oder anderen Frauen passiert, sondern ihren Schwestern, Ehefrauen, Töchtern und Kolleginnen. In Unternehmen sammeln wir manchmal anonymisierte Erfahrungen mit Alltagssexismus von Frauen ein und zeigen diese Berichte und Anekdoten Männern in unseren Gesprächsrunden. Da wird der Raum plötzlich sehr still. Viele Männer sind echt überrascht, dass ihren Kolleginnen solche Dinge immer noch passieren. Danach ist die Bereitschaft, mit anzupacken, oft höher. Ein ähnliches Phänomen beobachten wir bei Männern über 50 mit Töchtern im jungen Erwachsenenalter. Diese Männer sind manchmal sensibler oder empathischer dem Thema gegenüber als jüngere Männer oder solche ohne Töchter.Gibt es Männertypen, die sich besonders gut als Verbündete gewinnen lassen?Wir arbeiten gerne mit sogenannten „Alphamännern“, denn diese haben durch ihren Einfluss und die Anerkennung, die ihnen von anderen Männern entgegengebracht wird, einen großen Einfluss auf strukturelle Veränderung in Unternehmen und Gesellschaft. Am leichtesten tun sich mit dieser Thematik meistens „Pseudofeministen“ oder „Durchschnittsmänner“. Diese sind in aller Regel keine beinharten Sexisten und offen für gute Argumente oder Vorschläge. Richtig schwierig wird es, nicht überraschend, bei den „Sexisten“ und „Antifeministen“. Hier lässt sich kaum was bewegen, wir versuchen es in der Regel dann auch nicht wirklich. Das Gute dabei: Die beinharten Sexisten sind unter Männern nicht die Mehrheit. Was nicht heißen soll, dass nicht fast alle Männer sexistisch agieren, bei den meisten ist es aber eher ein unbewusster Sexismus. Und dagegen lässt sich was tun.Viele Männer sagen zwar, sie wollen Gleichberechtigung, tun aber wenig dafür.In der Tat beobachten wir häufig eine Diskrepanz zwischen dem, was Männer sagen, und dem, was sie tun. Untersuchungen, wie der Väterreport belegen: Viele Männer wünschen sich mehr Zeit mit den eigenen Kindern und wollen mehr Sorgearbeit übernehmen, tun es aber am Ende beides nicht. Zum Teil liegt das daran, dass auch Männer unter Strukturen leiden, in denen Männer als Haupt- oder Alleinernährer vorgesehen sind. Es fehlt aber auch an männlichem Mut. Mut, mit Selbstverständlichkeit nach sechs, sieben Monaten Elternzeit zu fragen, Mut, in Teilzeit zu arbeiten, Mut, bei sexistischen Witzen unter Männern was zu sagen. All das passiert zu selten, wir hören dann eher Sprüche wie: „Ich wollte ja Elternzeit nehmen, aber es hat einfach nicht geklappt“ oder „Ich weiß nicht, wie ich mit meinen Kumpels über das Thema sprechen soll“. Dabei verkennen Männer den Einfluss und das Privileg, das sie für Veränderung einsetzen können, einfach weil sie Männer sind. Studien zeigen: Männer hören anderen Männern besser zu. Wenn Männer sich klar positionieren und für mehr Elternzeit für Männer, inklusive Sprachpraktiken oder einen respektvollen Umgang in Meetings werben, dann hat das große Wirkung.Es gib dieses Argument, dass Männer gar nicht mehr wissen, was ihre Rolle ist, weil ihnen alles genommen wurde …Das hören wir auch häufig. Es ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Man muss ehrlich sagen: Das, was wir Männer bis vor Kurzem erlebt haben und teilweise immer noch erleben, ist de facto eine Männerquote. Viele Männer wurden befördert, nicht in erster Linie aufgrund von Qualifikation, sondern einfach, weil sie Männer sind. Natürlich gibt es viele kluge, starke und kreative Männer, die zu Recht auf Führungsposten sitzen, aber eben lange nicht nur. Jetzt leben wir in einer Welt, in der Männer mit starken und qualifizierten Frauen konkurrieren müssen. Für den einzelnen Mann mag sich das wie tiefe Ungerechtigkeit anfühlen, es ist aber nur der schrittweise Wegfall männlichen Privilegs.Welche Erkenntnis zu Feminismus würden Sie Männern gerne mitgeben?Die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit ist weder radikal noch bedrohlich. Es geht um ein Leben auf Augenhöhe, eine Welt, in der sich Frauen sicher fühlen und frei entfalten können. Dagegen kann kein Mann was haben.Placeholder image-1Vincent-Immanuel Herr (geboren 1988) arbeitet mit Martin Speer als Berater für Gleichstellung. In ihrem Buch Wenn die letzte Frau den Raum verlässt (Ullstein 2025, 208 S., 19,99 €) beschreiben sie, „was Männer wirklich über Frauen denken“