Selbstkritisch und subjektiv arbeitet der bekannte ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler in „Brüche“ seine eigene Biografie auf und erzählt sein „ostdeutsches Leben“. „Brüche“ ist sein bisher persönlichstes Buch
Straßenszene in Ost-Berlin im Jahr 1957
Foto: Picture Alliance/ZB | Berliner Verlag/Archiv
Er hat die Ostdeutschen sich selbst und anderen unzählige Male erklärt. Wie kaum ein anderer Soziologe prägte Wolfgang Engler unser Bild vom ostdeutschen Nachwendekollektiv. Dabei wagte er auch einen differenzierten Blick auf die DDR, in der er mehr sehen wollte als einen Stasi- und Spitzelstaat. In seinem neuesten Buch Brüche greift er sein großes Lebensthema wieder auf, doch dieses Buch ist sein bisher persönlichstes. Brüche erklärt nicht nur gesellschaftliche Umbrüche; es erzählt, wie der Soziologe wurde, was er ist. Es ist vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Soziologe im ersten Postwendejahrzehnt, in dem Engler theoretische soziologische Debatten näher schienen als seinen Mitbürgern.
Seine Schl
#252;rgern.Seine Schlafstörungen münden in eine waschechte DepressionEs beginnt mit einem Zusammenbruch. Engler durchlebt eine echte Krise in der ersten Welle der Corona-Pandemie. Seine Schlafstörungen verschlimmern sich und münden in eine waschechte Depression. Er ist lebensmüde; der einzige Ausweg: Er sucht Zuflucht in einer psychiatrischen Klinik. Medikamente und Therapieangebote stabilisieren den Soziologen mehr schlecht als recht. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Engler sich Lockdown-bedingt dem Schreiben und Lesen widmen könnte (schließlich sind Systemanalytiker nicht zwingend systemrelevant, jedenfalls nicht auf dieselbe Art wie Kassiererinnen), kann er keinen klaren Gedanken fassen.Du musst dein Leben ändern. Vielleicht ist es einer dieser Momente, in denen man all seine Lebensentscheidungen noch einmal überdenkt? Bei dem Soziologen scheint der Zusammenbruch eine Initialzündung zu geben: sich noch einmal mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen, schonungsloser als zuvor, bewusst nach Erinnerungslücken forschend.So erzählt Engler von seiner Sozialisation. Der Vater, Kriegsheimkehrer und Kommunist, bläut dem Jungen früh die Angst vor dem faschistischen Klassenfeind ein. Die Mutter, so stellt sich erst spät im Text heraus (es scheint eine sehr schmerzhafte Wunde in Englers Leben zu sein), ist eher gefühlskalt, nicht nur zu ihrem Mann, auch zu ihrem Sohn. Gar nicht so ungewöhnlich im Nachkriegsdeutschland, egal ob Ost oder West. „Die emotionalen Standards unserer Ernährer waren gänzlich andere als die vieler heutiger Eltern. Das betraf auch den Umgang mit uns, ihren Kindern. Sie hatten uns in die Welt gesetzt, versorgt, großgezogen, nahmen Anteil an unserer Entwicklung, aber liebten sie uns auch?“ Engler wird in Sachsen geboren, zieht aber rasch mit der Familie nach Berlin, in den Prenzlauer Berg, und wandert so auch ins Zentrum des Ost-West-Konflikts.Erwartungsgemäß bekommt er es mit der SED zu tunEr ist ein guter Schüler, doch ein Abitur darf er zunächst nicht machen. Stattdessen beginnt er eine Lehre. So weit, so gewöhnlich für DDR-Verhältnisse. Zwar ist Engler zu jung, um ein echter 68er zu sein, aber die Ereignisse rund um den Prager Frühling beeindrucken ihn stark. So stark, dass er sich zu einer ziemlichen Dummheit hinreißen lässt: Er will aus Protest seinen FDJ-Ausweis im Lehrbetrieb verbrennen. Erwartungsgemäß bekommt er es mit der SED zu tun: Er soll Buße tun und Parteimitglied werden. Dem 17-Jährigen bleibt keine andere Wahl.Scham. Scham über Lebensentscheidungen ist das Grundthema dieses Textes. Um die Scham zu erklären, sucht sich Engler Schützenhilfe bei den großen französischen Klassenerzählern. Bei Annie Ernaux, bei Édouard Louis und Didier Eribon. Scham spielt in deren Lebenserzählungen eine zentrale Rolle. Engler zeigt sich tief beeindruckt etwa von der Lektüre Louis’, der so hartnäckig um gesellschaftliche Anerkennung kämpfen musste. Doch erkennt er auch erhebliche Unterschiede zwischen dem Franzosen und sich.Das hat systemische Gründe: Die französische Klassengesellschaft, von der Louis erzählt, hat wenig gemein mit der DDR-Gesellschaft, dem Arbeiter- und-Bauern-Staat und seinen spezifischen Regeln des sozialen Miteinanders. In der Gesellschaft des Kollektivs tat man eben alles kollektiv: „Aus seinem Leben mehr zu machen als nur seine Herkunft aus einem Arbeiterhaushalt abzusitzen – das war nichts Besonderes. (…) Man erklomm einige Stufen auf der sozialen Leiter, qualifizierte sich durch Fleiß und Beharrlichkeit für anspruchsvollere, verantwortungsvollere Tätigkeiten. Man empfand Stolz, aber nicht den Stolz des Solitärs, der sich gegen alle Wahrscheinlichkeit aus misslichen Umständen emporgearbeitet hatte. Es war normal.“Fahrstuhleffekt statt individuellen Kampfs um den Aufstieg. Das erkläre seine Hemmung, sich als Aufsteiger zu denken: „‚Ich stieg auf‘, nein: ‚Man stieg auf.‘“ Obendrein durfte man gar nicht versucht sein, seinen Kopf allzu weit hinauszustrecken und sich Distinktionsgewinne oder einen besseren Status zu verschaffen. Das brachte eher Misstrauen als Bewunderung ein.Dass Engler trotzdem intensiv über Scham nachdenkt, ist vielleicht eher einem Akt der Verschiebung geschuldet: Schambehaftet scheint sein kontinuierlicher, nun doch persönlicher Aufstieg, verbunden mit einigen Privilegien. Engler studiert auf dem zweiten Bildungsweg an der Humboldt-Universität an der Sektion Marxistisch-leninistische Philosophie. Statt nach seiner Promotion an der Universität zu bleiben, wechselt er an das Berliner Institut für Schauspielregie, wo die Stelle als „Hausphilosoph“ frei wird. Engler eröffnen sich neue Welten im intellektuellen Austausch mit Regisseuren und Dramaturgen. „Die 1980er Jahre zählen, fast zögere ich angesichts der politischen Begleitumstände, die so vielen das Leben vergällten, es zu sagen, zu den glücklichsten meines Lebens.“Von Schikane keine Spur. Engler darf reisenVon Schikane keine Spur. Engler darf reisen. Er gilt als vertrauenswürdig, und tatsächlich: Er spielt nie mit dem Gedanken, abzuhauen. Vielleicht auch das ein Grund für Scham? Als die Wende kommt, hat er wieder Glück: Engler wird Professor für Kultursoziologie und Ästhetik an der Schauspielhochschule Ernst Busch in Berlin. Die marxistisch-leninistische Philosophie wird ihm nicht zum Verhängnis.Je mehr Engler von den Wendejahren erzählt, desto größer sein Bedürfnis zur Verteidigung. Engler sieht den Aufbruch, aber hat wenig Verständnis für die Sorgen der normalen Leute. Was für ihn neue berufliche Möglichkeiten erzeugt – die Freiheit! –, führt das ostdeutsche Kollektiv in die Massenarbeitslosigkeit. Er übersieht das, geht hart ins Gericht mit denjenigen, die sich betrogen fühlen, selbst dann noch, als der Osten wirtschaftlich katastrophal niedergeht: „Enteignung, Entwurzelung, Vertreibung – fiel jetzt endlich der Groschen, dass in diesem Land etwas grundsätzlich schieflief? Fühlte ich mich aufgerufen, dazu als ,promovierter‘ Ostdeutscher Stellung zu nehmen? Meldeten sich heimlich Schuldgefühle? Die Erinnerung bleibt stumm.“Im Text vollzieht sich nun etwas Bemerkenswertes: Der Soziologe dissoziiert, sein Ich spaltet sich und fortan ist immer häufiger von ihm/er die Rede, wenn er von sich selbst spricht. „Ich kann nur schwer ertragen, was ich zu jener Zeit dachte, sagte, schrieb, und annähern kann ich mich diesem Teil meiner Geschichte nur im Widerstreit der Perspektiven: Innen- und Außensicht. Ich und Er.“ Es wird klar: Englers Rolle als großer Erklärer und „Ostdeutschen-Versteher“ entsteht gerade aus dieser Leerstelle, der anfänglichen Ignoranz heraus. Beinahe, als müsse er seinen Mitbürgern gegenüber eine Schuld einlösen. Als Gewinner und öffentlicher Intellektueller eben Partei zu ergreifen für diejenigen, die lange mit vereinfachenden Narrativen erklärt werden sollten.Noch heute hält sich die Mär, die Ostdeutschen seien schlicht nicht befähigt zum Umgang mit der Freiheit. Verunsichert von den Möglichkeiten, hätten sie sich eben aufs Jammern zurückgezogen. Dabei verbrachte der Osten beinahe kollektiv das Nachwendejahrzehnt mit Umschulungen und nicht wenige zogen direkt in den Westen, auf der Suche nach Arbeit und Perspektive. Dass die Ostdeutschen von einem System der kollektiven Sicherheit in ein System der neoliberalen Unsicherheit katapultiert wurden (getarnt als Freiheit, sich selbst zu verwirklichen), kann man ihnen schwerlich vorwerfen.Doch macht Engler einmal mehr deutlich, dass die Ostdeutschen eben nicht einfach „verraten“ oder übervorteilt wurden. Sondern dass sie ihr Elend selbst wählten, als sie gegen jede Vernunft eine sofortige wirtschaftliche und politische Einheit, in Gestalt Helmut Kohls, wählten. Hinterher ist man immer schlauer. Vielleicht müssten die Ostdeutschen leisten, woran Engler sich in diesem Buch versucht: eine Selbstrevision. Mutig ist das, aus der Perspektive des Soziologen, allemal: sich nicht als objektiven Akteur zu verorten, sondern seine subjektiven Beweggründe und den individuellen Standpunkt herauszuheben.Brüche. Ein ostdeutsches Leben Wolfgang Engler Aufbau 2025, 347 S., 22 €