In Frankreich steht unweigerlich eine Machtprobe an, die womöglich auch auf der Straße ausgetragen wird, wenn es der Rassemblement National darauf anlegt. Nicht auszuschließen, dass daraus ein Machtkampf wird, dessen Ausgang offen ist
Das Urteil gegen Marine Le Pen könnte womöglich mehr schaden als helfen
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Diese Gerichtsentscheidung gegen Marine Le Pen kann tausendmal mit dem Hinweis versehen werden, sie sei allein dem Recht geschuldet und der Politik enthoben. Sie ist es nicht. Ihre Konsequenzen werden eminent politisch sein. Der Eindruck liegt auf der Hand: Das Ancien Régime hat gesprochen. Nun muss es sich auf einen Bumerangeffekt gefasst machen.
Die Mobilisierung nicht allein der Anhänger des Rassemblement National (RN) wird nicht lange auf sich warten lassen. Doch dürften sich auch Franzosen angesprochen und provoziert fühlen, die dem selbstgefälligen Durchhalteregime von Emmanuel Macron nicht mehr das Geringste abgewinnen können. Die es leid sind, dass er sich als europäischer Führer geriert und durch den großen Habitus für das innenpol
Durchhalteregime von Emmanuel Macron nicht mehr das Geringste abgewinnen können. Die es leid sind, dass er sich als europäischer Führer geriert und durch den großen Habitus für das innenpolitische Fiasko entschädigt. Er hat zu verantworten, dass Frankreich seit der Europawahl vom 9. Juni 2024 eine Instabilität in Permanenz beherrscht. Unmittelbar nach diesem Votum hatte Macron die Nationalversammlung aufgelöst, um auf das desaströse Ergebnis für sein Lager zu reagieren. Er suchte nach Legitimation, die ihm klar verweigert wurde. Die neue linke Volksfront und der Rassemblement National (RN) gewannen, ohne klare Sieger zu sein. Indem er das Parlament auflöste, hat sich Macron als höchste Instanz der Republik selbst aufgelöst. Zumindest erheblich beschädigt.Seither wird mit Minderheitsregierungen zweifelhafter Reputation mehr laviert als regiert. Wenn Letzteres unmöglich wird, helfen präsidiale Dekrete aus und weiter. Eine autokratische Anmaßung schleift die Reste des demokratischen Mandats für ein fragwürdiges Regierungshandeln. Richter leihen der Politik, was die an Resilienz durch permanenten Legitimationsverlust einbüßtInzwischen wurde es fast zur Selbstverständlichkeit, dass die Partei von Marine Le Pen und sie selbst davon profitieren. Daraus resultierten bis zum 31. März 2025, dem Urteil von Paris, vorzügliche Aussichten, 2027 die Präsidentenwahl zu gewinnen. Das entscheidende Projekt des RN, einer Revanche der kleinen Leute an den multikulturellen und liberalen Eliten wie ihrem Hochmut Geltung zu verschaffen, gewinnt immer mehr an Zugkraft. Diese Tendenz dürfte jetzt noch einmal zulegen. Le Pens Gegner schlagen per Gerichtsurteil und judikativer Selbstermächtigung zurück, Richter leihen der Politik, was die an Resilienz durch permanenten Legitimationsverlust einbüßt. Womöglich entsteht gerade das „französische Modell“ im Nahkampf mit Parteien, die Volkszorn und Wut, ebenso Empörung über Demokratieverachtung bündeln. Macrons Neoliberalismus und unverhohlener Autoritarismus sind im Juni und Juli 2024 abgewählt worden, aber als Regierungsdoktrin nicht abgetreten. Dass sich die Justiz in die Bresche wirft und Le Pen ausschaltet, wirkt wie ein letztes Gefecht, um zu verhindern, was näher zu rücken schien – eine Präsidentin Marine Le Pen. Es steht eine Machtprobe bevor, die zum Machtkampf werden kann. Ja, es schon ist. Le Pens Umfragewerte waren zuletzt so hoch wie noch nieDas „französische Modell“ ist in Europa bisher ohne Beispiel. Schweden und die Niederlande haben sich auf das „integrative Muster“ verlegt, indem rechtsnationale Parteien wie die Schweden-Demokraten Regierungen tolerieren oder in Regierungshandeln eingebunden werden wie die Freiheitspartei von Geert Wilders. Giorgia Meloni in Italien verkörpert die „europäisierbare oder europafreundliche Variante“. Das heißt, bei außenpolitischen Positionen auf Streicheleinheiten der EU bedacht zu sein, aber sonst Identitätsverluste zu vermeiden, sei es in der Migrations-, Sozial- und Geschichtspolitik. Setzen sich Gerichte als letztes Bollwerk des Ancien Regime in Szene? Fällen sie Urteile, die einer etablierten Politik zur Hand gehen, aber ihr womöglich mehr schaden als helfen? Gewiss ist Le Pen durch eine erstinstanzliche Verurteilung wegen Veruntreuung und Korruption in ihrer persönlichen Integrität beschädigt, ob das jedoch für ihre politische Aura gilt, erscheint fraglich. Die jüngsten Umfragewerte für sie lagen zwischen 35 und 37 Prozent. Sie waren damit so hoch wie noch nie. In einem ersten Wahlgang wäre sie damit vermutlich nicht zu schlagen.