Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mich als Wahlhelferin beworben. In Bürokratiedeutsch heißt das: Ich gab eine „Bereitschaftserklärung“ ab. Berlin suchte dringend Wahlhelfer, da wollte ich mich nicht drücken. Zunächst kam gar keine Antwort, dann eine negative: Meine Hilfe werde nicht benötigt. Auch gut. Umso entspannter ging ich am 26. September 2021 wählen, wie immer in der Frühe, im Wahllokal um die Ecke, und wie immer wurde mir warm ums Herz – ich gehöre zu den Wahl-Patrioten. Beim Wählen wird mir feierlich zumute, es ist wie beten – man macht das nicht einfach so. Andächtig drückte ich also den Kugelschreiber aufs Papier, freute mich über mein demokratisches Land und darüber, wie es Pflicht
Hauptstadt Am 12. Februar 2023 wiederholt Berlin die Wahl seiner Parlamente. Der Volksentscheid „Berlin Klimaneutral 2030“ könnte zeitgleich stattfinden. Oder würde das nur erneute Pannen provozieren?
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Lange Schlangen in vielen Berliner Wahllokalen bei der Wahl im September 2021: Auch Franziska Giffey wartet, um ihre Stimme abgeben zu können
Foto: Imago Images/Political-Moments
cht und Neigung so wohlgefällig in eins fallen lässt. Wo sonst wären tatsächlich alle Menschen, zumindest die mit deutscher Staatsbürgerschaft, gleich (viel wert)? Egal, wie sie aussehen, denken, reden, lieben oder welchen Mist sie bislang in ihrem Leben gebaut haben – Wählen eint uns alle.Ein Irrtum. Jene Wahl einte niemanden, sie machte auch der Demokratie keine Ehre – sie ging schief. Die Landeswahlleitung listete auf: In 102 von insgesamt 2.257 Wahllokalen musste die Stimmabgabe wegen fehlender Stimmzettel unterbrochen werden, manchmal für bis zu zwei Stunden. In 255 weiteren kam es zu Stimmabgaben nach 18 Uhr, in 22 warteten die Wähler bis nach 19:30 Uhr. 170 Wahlberechtigte wurden nicht zugelassen. 15 Mal haben Minderjährige oder EU-Ausländer gewählt, ohne berechtigt gewesen zu sein. Die Folge: Anfechtung der Wahlen, ein Landesparlament mit fragwürdiger Legitimation und eine Regierung im Wartestand: Wie würde der Landesverfassungshof entscheiden?„Desaster, Skandal, Tragödie“Ich überlegte, ob ich beleidigt sein müsste, als Souverän, denn wie viel ist so ein Volkswille wert, wenn er entweder nicht zum Ausdruck kommen kann oder missachtet wird? Andererseits widerstrebt mir der Empörungs-Pessimismus der Hauptstadtmedien. Viele verfallen hier schon bei der kleinsten Nachlässigkeit eines Bürgeramts in Schnappatmung. „Desaster“ und „Farce, Skandal, Tragödie“ hieß es erwartungsgemäß beim Tagesspiegel. Das ist mir ein bisschen zu dick.Sicher, es läuft nicht alles rund in der Hauptstadt. Zwischen Bezirken und Senat spielt man allzu gern das Lieblingsspiel aller Verwaltungen: „Mensch-verantworte-dich-nicht“. Aber dass die Wahlen mir und weiteren fast 1,9 Millionen Berlinern „sowohl umsonst als auch vergeblich ein(en) Sonntag versaut und ihr Vertrauen in die funktionierende Demokratie in der Hauptstadt eines zivilisierten Landes leichtfertig und fahrlässig erschüttert“ hätten, wie Tagesspiegel-Chef Lorenz Maroldt dröhnt, kann ich für mich nicht feststellen. Da gab es viel tiefere andere Erschütterungen, etwa monatelange Schulschließungen, das Einsperren von Alten oder der menschenfeindliche Umgang mit nicht geimpften Steuerzahlern bei flankierender Diskreditierung als „Corona-Leugner“.Volksentscheid „Berlin Klimaneutral 2030“Vielleicht bin ich abgestumpft, aber mir fehlt der nötige Empörungsgrad, um wegen des Wahldebakels den Rücktritt des damaligen Innen- und jetzigen Stadtentwicklungssenators Andreas Geisel (SPD) zu fordern. Ich vermag auch nicht zu erkennen, wer sich da bei wem zu entschuldigen hätte – hat es die jetzt-nicht-mehr-Landeswahlleiterin Petra Michaelis verbockt, oder waren’s die Bezirke? War Corona schuld? Der gleichzeitige Marathon? Jedenfalls hat der Berliner Verfassungsgerichtshof am 16. November klargestellt: Die Wahlen sind komplett ungültig, sowohl auf Landes-, als auch auf Bezirksebene muss es „Wiederholungswahlen“ geben – ein Wort, das nicht mal im Duden steht. Zusätzlich müssen die Berliner in 431 Wahllokalen ihre Stimmen für den Bundestag nochmal abgeben, das hatte das Parlament kurz vorher beschlossen.Ob beide Wahlen zusammen stattfinden ist derzeit ebenso ungeklärt wie die Frage, ob der Volksentscheid „Berlin Klimaneutral 2030“ gleichzeitig zur Abstimmung steht – oder ob er erst später kommt. Nach Prüfung der deutlich über 260.000 eingereichten Unterschriften – 171.000 gültige Unterschriften wären nötig – muss der Senat einen Termin festlegen, der spätestens Ende März liegt. Es läge nahe, das Volk nur einmal in die Wahlkabine zu bitten und alles in einem Aufwasch zu machen. Auch, um etwaigen Abstimmungs-Burnouts vorzubeugen.Briefwahlunterlagen ab 2. Januar„Eine kaum lösbare Aufgabe“, befindet jedoch Landeswahlleiter Stephan Bröchler. Schon die mit 90 Tagen sehr kurze Vorbereitungszeit – am 12. Februar wird wiederholungsgewählt – sei „eine Herkulesaufgabe“, denn die Unterlagen für Volksentscheid wie Briefwahlunterlagen sind ab dem 2. Januar an die Bürger zu verschicken. Wenn da nun auch noch der Volksentscheid Ressourcen bindet, sei ein reibungsloser Ablauf „ernsthaft gefährdet“.Ich verstehe das. Man will es nicht nochmal versemmeln. Aber die Klimaschützer sind not amused, nicht nur, weil ein gemeinsamer Termin „machbar“ und um Millionen kostengünstiger sei, wie es in einem Offenen Brief an den Senat heißt – er sei „auch dringend notwendig, um das Vertrauen in die Berliner Demokratie nicht weiter zu gefährden“.Die Volksentscheid-Termin-FrageIn jedem Fall obliegt es gemäß Landesverfassung dem Abgeordnetenhaus, entweder einen eigenen Entwurf zur Abstimmung zu stellen oder den Entwurf des Volksbegehrens anzunehmen. Aber ist es richtig, wenn ein Parlament auf Abruf dem Souverän etwas so Wichtiges zur Abstimmung vorlegt? Wäre dies nicht eher Sache ordnungsgemäß gewählter, voll handlungsberechtigter Abgeordneter? Dies spräche für einen Volksentscheid-Termin nach den Wiederholungswahlen. Auch hier kommen jedoch Fragen auf: Wäre er organisatorisch schaffbar? Das neue Parlament muss sich ja erstmal konstituieren, gleiches gilt für die Bezirksverordnetenversammlungen, die neuen Bezirksämter müssen gewählt werden undsoweiter.„Wenn der Volksentscheid am Wahltag nicht stattfindet, ist er gescheitert“, befürchtet Klaus Farin, Geschäftsführer des Hirnkost Verlages, der sich mit vielen anderen Institutionen und Wissenschaftlern für ein klimaneutrales Berlin 2030 – und nicht erst 2045 – einsetzt. Ein Scheitern wäre „weder gut fürs Klima noch für die Demokratie“. Die „Klimaneustart“-Initiative, ebenfalls Teil des Bündnisses, und der Verein „Mehr Demokratie Berlin-Brandenburg“ fordern auf Twitter: „Wahl und Volksentscheid nicht entkoppeln!“Franziska Giffey als Innensenatorin?Aus der Senatsinnenverwaltung hört man derweil, dass ein Zusammenfallen von Wiederholungswahl und Volksentscheid „unwahrscheinlich“ sei. Die „Lieferketten für die Stimmzettel“ seien herausfordernd. „Eine blöde Ausrede“, kontert Klimaschützer Farin. Es gehe um einen einzigen Abstimmungsbogen, der für alle Wahllokale gleich sei – „das ist einfach“. Viel schwieriger sei die Durchführung der Wahl selbst. Grüne und Linke wittern ebenfalls, ohne sich zitieren lassen zu wollen, Verfahrenstricks.Denn der Wahlkampf hat längst begonnen. Am Marktplatz werben die Grünen für Bettina Jarasch als Regierende Bürgermeisterin. Andere streuen das Gerücht, die amtierende Regierende, Franziska Giffey (SPD), bereite ihre Niederlage und sich selbst aufs Amt der Innensenatorin vor. „Dafür wäre sie doch wie gemalt“, hört man. Eine Umfrage von Infratest dimap sieht die Grünen mit 22 Prozent vor der CDU mit 21 Prozent (SPD: 19, Linke: 11, AfD: 10, FDP: 5, Sonstige: 12).Kai Wegner von der CDUKai Wegner tönt nach seiner Kür zum Spitzenkandidaten auf dem CDU-Parteitag, er wolle „das System SPD“ beenden. Seit 33 Jahren trügen die Sozialdemokraten in Berlin Regierungsverantwortung, davon 21 Jahre mit dem Regierenden oder der Regierenden Bürgermeisterin. „Die Genossinnen und Genossen glauben, ihnen gehört Berlin“, ärgert sich der Christdemokrat. Mit einem „klaren Regierungsauftrag von den Berlinerinnen und Berlinern“ werde sich dies ändern. Auch manche Sozialdemokratin findet den Gedanken nicht völlig abwegig, dass ein Machtwechsel demokratiestärkend wirken könnte. Ob allerdings ein schwarz geführtes Rotes Rathaus Berlin bekäme, darf bezweifelt werden. Und ob ausgerechnet rechts blinkende Grüne frischen Wind bringen, auch.Aber erstmal sind in einem frostigen Winterwahlkampf die Wiederholungswahlen zu organisieren, ob mit oder ohne Kopplung an den Klima-Entscheid. Der Landeswahlleiter will 42.000 Wahlhelfer anwerben, weit mehr als beim letzten Mal. Und mehr Wahlurnen aufstellen lassen. Auch mein Bezirksamt bemüht sich redlich. „Sehr geehrte Frau Körting“, schreibt es, „herzlichen Dank, dass Sie die vergangenen Wahlen als Mitglied in einem Wahllokal unterstützt haben!“ Das habe ich zwar nicht, aber freundlicherweise liegt das Formblatt zur „Bereitschaftserklärung“ bei. „Wir bedanken uns schon jetzt sehr herzlich für Ihre Unterstützung und verbleiben…“ Sogar eine E-Mail-Adresse gibt es – Berlin, ick liebe dir! Flugs ausgefüllt, eingescannt, hingesandt. Ich helfe – und wähle – gern.