In letzter Zeit fühle ich mich immer wieder in meine Kindheit zurückkatapultiert, als Harry Potter auf Deutsch erschien und mit ihm die Frage: Schon den neuen Band gelesen? Als der Serien-Hype mit Breaking Bad eine neue Dimension erreichte, war es ähnlich: Die Serie wurde – zumindest in bestimmten Kreisen – zu einem kulturellen Referenzpunkt. Derzeit gelingt das auch der Podcast-Reihe Cui Bono. Jede Woche bin ich mit der Frage konfrontiert: „Na, die neue Folge schon gehört?“

Cui Bono: Wer hat Angst vorm Drachenlord?, heißt die zweite Staffel der preisgekrönten Podcast-Reihe, in der sich Host und Autor Khesrau Behroz – nach der ersten Staffel über Ken Jebsen – abermals mit einem Internetphänomen befasst. Doch so ähnlich die Grundkonstellation der Staffeln klingt, so fundamental unterschiedlich sind sie doch: Denn Ken Jebsen war eine Medienperson mit zerstörerischem Einfluss und gleichzeitig ein Mysterium. Der Drachenlord ist dagegen viel stärker noch ein Antiheld des Internets, ein Opfer, einer, der aus sich gerade kein Mysterium macht, sondern radikal alles von sich preisgibt.

Im realen Leben, in Altschauerberg irgendwo in der fränkischen Provinz heißt der Drachenlord – weniger glamourös – Rainer Winkler. Doch was heißt schon reales Leben? Seine Geschichte ist ein Paradebeispiel dafür, dass Internetphänome und „reales Leben“ keine getrennten Sphären mehr sind.

Es ist eine Geschichte vom Streben nach Öffentlichkeit und der Grausamkeit einer mehr oder weniger anonymen Masse, für die Mobbing ein Zeitvertreib ist. Winkler spricht auf seinem Youtube-Kanal Drachenlord 510 über Metal oder schmiert sich Brote. Er macht sein Leben öffentlich, auf der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Stattdessen erntet er Hass und Herabwürdigung. Immer mehr „Hater“ mobben ihn, machen sich über sein Leben im heruntergekommenen Elternhaus und sein Körpergewicht lustig. Dieses „Drachengame“ nimmt immer krassere Züge an. Er wird live im Netz gedemütigt, die Feuerwehr wird zu einem falschen Alarm in seinem Haus gerufen, irgendwann belagern 900 Menschen sein Haus. Winkler reagiert auf die Angriffe, bis er selbst vor Gericht landet.

In der Rekonstruktion dieses Falles legt Khesrau Behroz ein entscheidendes Dilemma offen. Der Drachenlord will bekannt werden. Doch als er sein Ziel erreicht hat, wird dies für ihn zugleich das größte Martyrium – ein Teufelskreis, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt: Als Rainer Winkler seinen Youtube-Kanal schließen soll, um einer Haftstrafe zu entgehen, nimmt er den Deal nicht an.

Hetzmasse gegen Drachenlord

Was treibt diesen Mann an? Warum setzt er sich diesen Qualen aus, warum hört er nicht einfach auf? An dieser Stelle wüsste man gerne, was Rainer Winkler selbst dazu sagt. Doch der Drachenlord ist zwar oft in seinen Youtube-Videos zu hören, ein Interview gibt es aber nicht. Behroz hat zwar mit ihm gesprochen, allerdings wollte sich der Winkler dabei nicht aufnehmen lassen.

Das ist einerseits schade, andererseits liegt der Fokus ohnehin viel stärker auf der anonymen Masse. Denn Host Behroz belässt es nicht bei der Schilderung des Falls, er ordnet das Phänomen ein. Die Selbstentblößung auf Youtube ist für ihn die ultimative Form des Reality-TV, die Erfahrungen von Big Brother dienen so als Blaupause, um die Mechanismen hinter dem Umgang der Menschen mit dem Drachenlord zu verstehen. Da ist zum einen die Freude daran, nach unten zu treten, sich über einen Menschen zu erheben. Hinzu kommt aber die berauschende Macht, die sich durch die schiere Masse ergibt. Diese Macht muss nicht zwingend negativ und destruktiv sein, aber sie kann. So wie im Fall des Drachenlords, an dem sich die Hetzmasse im digitalen Zeitalter beobachten lässt.

Ist das schon Voyeurismus?

So wie Cui Bono diesen Fall nacherzählt, entwickelt der Podcast einen bemerkenswerten Sog, weil sich Khesrau Behroz und sein Team auf die Erfolgsfaktoren der ersten Staffel über Ken Jebsen verlassen. Der Aufbau der Rekonstruktion, die Versatzstücke und Zitate auf der Geschichte der Popkultur, die Musik, die das Unbehagen der Geschichte großartig aufgreift.

Ist das nicht auch eine Form des Voyeurismus? Wird man nicht zu einer weiteren Dimension dieses gesellschaftlichen Trauerspiels? Dagegen spricht, dass Cui Bono die Analyse mitliefert. Der Podcast erschöpft sich eben gerade nicht darin, in behäbiger True-Crime-Manier ein Unglück nachzuerzählen, sondern regt zum Nachdenken an.

Am Ende bleibt eine diffuse Angst vor dem, wozu Menschen von nebenan imstande sind. An einer Stelle berichtet Behroz vom Berufungsprozess gegen den Rainer Winkler. Einer seiner Hater, ein Medizinstudent, macht eine Aussage. Beim Rausgehen, sagt Behroz im Podcast, habe er gedacht: „Der wird irgendwann mal Arzt.“ Die Grausamkeit ist überall, auch – oder vielleicht gerade – in der bürgerlichen Mitte. Eben deshalb muss man sich solche Fälle genau ansehen – wie Cui Bono es tut. Also: „Schon die neue Folge gehört?“



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Von Veritatis

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