Liebe Lesende aus dem Jahr 2072. Freuen Sie sich mit mir auf ein fantastisches Jubiläum, auf 50 Jahre Selbstbestimmungsgesetz. Um wirklich erfassen zu können, wie weit uns dieses Gesetz gebracht hat, wage ich einen Blick zurück in ein dunkles Zeitalter, das einigen von Ihnen kaum vorstellbar sein wird. Damals also – vor 50 Jahren – wurden noch alle Menschen von Staats wegen anhand von Erscheinungen, die man damals Genitalien nannte, in zunächst zwei, dann drei Gruppen eingeteilt: weiblich (Frau), männlich (Mann) und divers. Einem damaligen Aberglauben zufolge entstanden neue Menschen nur, wenn sich jeweils eine Frau und ein Mann dafür zusammentaten. Obwohl es, wie wir heute wissen, schon immer viele Gründe für dicke Bäuche gab, wurde angenommen, in dicken Bäuchen säßen neue Menschen und diese suchten sich dafür ausschließlich Menschen aus der Gruppe Frauen aus. Absurd.
Laut einer weitverbreiteten Verschwörungstheorie wurden sogenannte Frauen deshalb sogar massiv benachteiligt. Um gegen diese Diskriminierung vorzugehen, erfand frau die sogenannte Gendersprache, die zunächst eine reine Genitaliensprache war. Denn wenn Sie etwa sagten „Ich bin Radfahrerin“, dann wusste jeder, mit welchen Genitalien Sie herumliefen, nämlich jenen, die damals als weiblich galten. Es war, als müssten Sie sich ständig nackt ausziehen. Einfach peinlich! Etliche verweigerten sich der Genitaliensprache. Sie sagten „Ich bin Radfahrer“, obwohl man den Verdacht hatte, dass die Genitalien des oder der Betreffenden nicht zur Endung passten. So schlich sich großes Misstrauen unter die Menschen. Bis endlich eine Person namens Sven Lehmann das Geschlecht offiziell von seiner genitalen Abhängigkeit befreite.
Auf der Website des Bundesfamilienministeriums (so hießen damals die offiziellen Regierungsneuralinks) schrieb er: Die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen hängt von „seiner nachhaltig selbst empfundenen Geschlechtlichkeit ab, das heißt seiner Geschlechtsidentität“. Dieser berühmte Circulus vitiosus ist die Grundlage unseres heutigen Geschlechtsbegriffs. Im Nachhinein rührend ist, dass man damals glaubte, nur wenige Leute, die sich alle queer nannten, wollten geschlechtliche Selbstbestimmung, während der Großteil der Bevölkerung lieber fremdbestimmt bleiben wollen würde. Was für eine Überraschung, als das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft trat! Plötzlich verstanden viele, dass in den amtlichen Dokumenten nicht mehr ihr biologisches Geschlecht aufgeführt war, sondern ihr gefühltes. Und sie rebellierten.
Wenn es schon zuvor fraglich war, wie ein Arzt bei Geburt das Geschlecht aufgrund arbiträrer Merkmale zuordnete, wie bizarr war es dann erst, dass er bei Geburt die vom Säugling empfundene Geschlechtlichkeit festzustellen hatte? Das war doch nun wirklich etwas, das jeder selbst frei entscheiden sollte. Und zwar wirklich frei. Boris Schinkels, Juraprofessor aus Greifswald, hatte das Gesetz im Vorfeld so kritisiert: Wenn Geschlecht keine falsifizierbare Tatsache mehr ist, dann ist es eine Meinung und diese darf nicht beschränkt werden. Also klagten die Leute in Massen, sie forderten Geschlechtseinträge als Einhorn, als Stuhl, als Olaf. Wer sollte ihnen das verwehren? Bald schon wurde der Geschlechtseintrag komplett freigestellt. Zum Glück! Mit Frau oder Mann kann ja bekanntlich heute niemand mehr etwas anfangen. Was bitte soll das sein? Und, mal ehrlich, es geht den Staat und auch sonst niemanden etwas an, mit welchen eingebildeten Genitalien wir herumlaufen. Ist auch wirklich obsolet. Schauen wir uns doch mal genau an. Wir haben nicht mal mehr Unterkörper – hier in unserem Metaversum.