Hier geht es um Begeisterung. Der Mensch richtet sich auf und geht auf zwei Beinen. Seine Perspektive verändert sich. Sein Gesichtssinn weitet sich. Die Wirbelsäule übernimmt die Stabilisierung in der Vertikalen und wird zur Drehachse. Der Kopf lässt sich auf den Halswirbeln in verschiedene Richtungen kippen und seitlich weit nach hinten drehen. Der Sehradius wird groß. Die Wirbelsäule wird s-förmig und federt ab. Die Füße formen sich für einen stabilen Gang um. Der Mensch wird wendig: der aufrechte Gang. Warum hat sich der aufrechte Gang in der Menschheitsgeschichte entwickelt? Weil so das Territorium besser überblickbar ist und weil so mit weniger Energie weitere Strecken zurückgelegt werden können. Der aufrechte Gang hat uns also weitsichtiger und ausdauernder gemacht. Wie unglaublich toll ist das.

Das war damals, in der Savanne. Heute gehen wir durch Städte, entlang von Stadträndern und durch von Menschen gestaltete Landschaften. Eine ganz andere Welt. Dennoch: Am meisten Eindrücke gewinnen wir nach wie vor beim Gehen zu Fuß. Unser Blick wendet sich in alle Richtungen. Geräusche von nah und fern dringen an unser Ohr. Wir spüren Wind, Sonnenwärme, Regen. Unsere freigespielten Hände laden zu Berührungen von Oberflächen ein. Gleichgewichtsorgane, Muskeln informieren uns laufend über die Beschaffenheit des Bodens und unsere relative Lage. Der sich frei bewegende Körper bietet einen maximalen sinnlichen Zugang zur Welt. Absolut faszinierend.

Weil wir wendig sind, können wir experimentieren. Mal langsamer gehen, mal schneller. Unebenheiten im Boden lustvoll auskosten. Schwanken, stelzen, schleichen. Wir können abrupt stehen bleiben und unmittelbar die Richtung ändern. Wir können uns durchquetschen und breitmachen. Wir können anderen Menschen unvermittelt begegnen und mit den vielfältigsten Kreaturen unserer Mitwelt direkt Kontakt aufnehmen. Was für ein Wunder.

Wer zu Fuß geht, muss auf nichts verzichten und gewinnt alles: nachhaltiges Glück. Die kanadische Erziehungswissenschaftlerin Catherine O’Brien schließt in ihrem Buch Education for Sustainable Happiness and Well-Being in ihrer Definition von Glück Nachhaltigkeit mit ein. „Nachhaltiges Glück“ trägt zum persönlichen, gemeinschaftlichen und globalen Wohl bei, ohne anderen Wesen und zukünftigen Generationen zu schaden. Gehen ist nachhaltig. Es hat von allen Transportarten den geringsten ökologischen Fußabdruck. Also lasst uns ausschweifend zweifüßig unterwegs sein und glücklich werden.

Damit ist die Bedeutung des Gehens in der Mobilitätswende klar. Denn es gibt nichts Wendigeres als das Gehen. Das Gehen schlägt jeden Zug, jeden Bus, jedes Auto, sogar das Fahrrad, wenn es um den Wenderadius geht. Macht Platz für die Fußgängerinnen und Fußgänger! Platz für das freie Gehen, Schnell- und Langsam-Gehwege, alle grün, mit gesunder Luft und wenig Lärm in Stadt und Land. Nah- und Weit-Gehwege zum Einkaufen, Arbeiten, Zeit verbringen, die Welt entdecken und für Begegnungen.

Schaffen wir die besten Bedingungen für die Wendigkeit unserer wunderbaren Körper. Die Sinne öffnen sich, wir nehmen wahr, staunen. Wir drehen und wenden uns. So kann unser Gehen zum beschwingten Tanz in eine nachhaltige Zukunft werden.

Die Spazierkünstlerin Marie-Anne Lerjen hat 2011 ihre Agentur für Gehkultur in Zürich gegründet. Seither erkundet sie auf vielgestaltige Weise die Möglichkeiten des Gehens



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Von Veritatis

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