Es schien ein Bild von symbolischer Bedeutung zu sein. Im Tor des Zirkus der südrussischen Millionenstadt Rostow am Don war am 24. Juni ein Panzer der rebellierenden Wagner-Gruppe steckengeblieben. Kopfschüttelnd betrachteten etliche Bewohner die makabre Szene. Der Aufstand von etwa 25.000 Militärs, den Söldnerchef Jewgenij Prigoschin als „Marsch für Gerechtigkeit“ ausgegeben hatte, wirkte plötzlich wie eine Clownade. Eine blutige allerdings, denn mindestens 15 Soldaten der russischen Luftwaffe kamen um, als „Wagner“-Söldner ein fliegendes Kommandozentrum und mehrere Hubschrauber abschossen.

Die überraschende Wende, mit der die Revolte ein Ende fand, offenbart die innere Widersprüchlichkeit des Moskauer Machtsystems. Zun

ems. Zunächst hatte Wladimir Putin am Vormittag des 24. Juni in einer Fernsehansprache den Aufmarsch als „Dolchstoß in den Rücken des Landes“ bezeichnet. Die Putschisten versuchten, so der Präsident, „das Land in Richtung Anarchie und Brudermord zu treiben“. Sie hätten „Russland verraten“ und „den Weg der Erpressung und terroristischen Methoden eingeschlagen“. Daher würden die „Maßnahmen zur Verteidigung des Vaterlandes“ gegen die Aufrührer „hart“ sein. Doch statt zum blutigen Showdown kam es zu einem Gentlemen’s Agreement. Durch Vermittlung des belarussischen Staatschefs Alexander Lukaschenko ließ sich Prigoschin überzeugen, seinen Männern den Befehl zum Rückzug zu geben und den angekündigten Marsch auf Moskau abzusagen.Putins Pressesprecher Dmitri Peskow verkündete noch am 24. Juni, das Ermittlungsverfahren gegen Prigoschin wegen Aufruhrs werde eingestellt, sofern er sich nach Belarus begebe. Dazu berichtete am 26. Juni die Moskauer Zeitung Kommersant, in der Regel gut über Kreml-Interna im Bild, der Inlandsgeheimdienst FSB wolle weiter wegen des Aufruhrs gegen Prigoschin und andere ermitteln. Der FSB hatte zwei Tage zuvor öffentlich noch schärfer gegen den Söldnerchef Stellung bezogen als der Präsident. Der Geheimdienst warf Prigoschin vor – den er anders als Putin namentlich nannte –, er wolle „einen bewaffneten Bürgerkrieg auf dem Territorium der Russischen Föderation beginnen“. Dies sei Gewalt „gegen das russische Volk“. Der FSB rief die „Kämpfer der Wagner-Truppe“ auf, „nicht die verbrecherischen und verräterischen Befehle Prigoschins“ auszuführen und „Maßnahmen zu seiner Festnahme“ zu treffen. Doch dann gab es auch hier eine jähe Wendung. Am 27. Juni stellte der FSB die Ermittlungen gegen die „Wagner“-Leute plötzlich ein, da diese selbst „ihre auf das Begehen von Verbrechen gerichtete Tätigkeit beendet“ hätten. Der Dienst fügte sich der Sicht des Präsidenten.Der Putsch ist Zeichen eines schwachen StaatsDer FSB, den Putin Ende der 1990er Jahre selbst führte, wollte die Militärrevolte offenkundig zunächst nicht als Kavaliersdelikt betrachten. Immerhin stand außer Frage, dass der vermeintlich starke Staat sich selbst ad absurdum führt, wenn bewaffnete Putschisten straffrei ausgehen. Ähnlich sehen es weiterhin hohe Offiziere des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR. Einer ihrer Veteranen, Oberst Andrej Besrukow, der in der Elite ein hohes Ansehen genießt, sagte am Sonntagabend in einer Diskussionssendung des russischen Fernsehens, der Prigoschin-Putsch sei ein „Zeichen eines schwachen Staates“. Dem Staat fehle „ein System der realen Verantwortung von oben bis unten“. Es gelte daher jetzt, „aus diesem Land einen starken Staat zu machen“. So lautete das bemerkenswerte Fazit eines Loyalisten, formuliert knapp 24 Jahre nach dem Machtantritt Putins Ende 1999, der den starken Staat zu seinem Markenzeichen gemacht hat.Besrukow ist ein talentierter Analytiker mit außergewöhnlicher Praxiserfahrung im Systemvergleich. Er war jahrelang in den Vereinigten Staaten unter dem falschen Namen „Donald Heathfield“ für den SWR tätig. Nach seiner Verhaftung 2010 wurde er ausgetauscht. Heute lehrt Besrukow als Professor an der angesehenen Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO. Wer ihn kennt, konnte ihm seine tiefe Erschütterung angesichts der Ereignisse anmerken. Zwar hatte Putin in seiner Ansprache an das Volk am 24. Juni hinsichtlich des Putsches angekündigt, er werde „nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholt“. Es gelte, „unsere Staatlichkeit vor jeder Bedrohung“ zu schützen. Doch ist mit dem gefundenen Kompromiss, Prigoschin zu schonen, ein Widerspruch geschaffen, den Putin kaum lösen kann. Die Generalstaatsanwaltschaft, die Ermittler der Armee und der Inlandsgeheimdienst untergraben ihre Autorität, sollten sie auf Ermittlungen gegen die Putschisten, inklusive Prigoschin, verzichten. Aber bisher gilt: Putin hat sich am Abend des 24. Juni zum obersten Gerichtsherrn des Landes aufgeschwungen und damit eine Säule jener „Stabilität“ gefährdet, die ihm stets Mantra und Ideologieersatz war.Wladimir Putins System profitiert von einer fehlenden IdeologieDer bizarr wirkende Putsch und Putins Reaktion darauf sollten auch westlichen Beobachtern und Analytikern eine Lehre sein. Vereinfachte Erklärungsmuster wie jenes, das Putin’sche Regime sei „faschistisch“, treffen nicht die komplexe Realität dieser autoritären Ordnung. Nirgendwo hat je ein faschistisches Regime auf einen Putsch derart konziliant reagiert. Hinzu kommt, dass die Moskauer Macht sich weder auf dynamische Jugendorganisationen noch eine straff geführte Weltanschauungspartei stützen kann. Sie sucht immer wieder den Kompromiss.Das System personalisierter Herrschaft ist insofern fragiler und flexibler als jedes totalitäre System. Das Fehlen einer festen Ideologie gab Putin bislang einen großen Spielraum. Der wurde noch dadurch verstärkt, dass im heutigen russischen Staat kollektive Korrektive wie ein Zentralkomitee und ein Politbüro fehlen. Putins mit den Jahren gewachsene Immunität gegenüber selbstkritischen Überlegungen erhöhte noch die Gefahr von Fehlern, die das staatliche Machtsystem insgesamt destabilisieren – der Krieg verschärft nun dieses Problem. Denn das Experiment mit einem staatlich alimentierten Söldnerkorps, das der Armee Konkurrenz macht, hat sich als Sackgasse erwiesen. Vertragssoldaten befeuern eher eine Tendenz zum Zerfall staatlicher Autorität.Diese Gefahr ist mit dem Ende des Prigoschin-Putsches nicht gebannt. Es fiel auf, wie sich Teile der Armee, Propagandisten aus dem Umfeld des Militärgeheimdienstes GRU und Blogger monatelang an den Schimpfkanonaden Prigoschins gegen Armeekommandeure berauschten. Eben deshalb wird viel von der Lage an der Front in der Ukraine abhängen. Diese kann weitere Konflikte zwischen verschiedenen Sicherheitskräften Russlands nach sich ziehen oder diese vermeiden lassen. Der 24. Juni 2023 hat einmal mehr gezeigt, der Versuch des Westens, der Nuklearmacht Russland durch einen massiven Waffentransfer eine strategische Niederlage auf dem ukrainischen Schlachtfeld beizubringen, kann Warlords auf den Plan rufen, bei denen man den vergleichsweise rational handelnden Putin noch schwer vermissen könnte.



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Von Veritatis

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