Reportage Keine zwei Wochen vor Nahel Merzouks Tod wurde in Westfrankreich Alhoussein Camara, 19, von der Polizei erschossen. Anders als in Nanterre gibt es jedoch keine Bilder: Die mobile Kamera des Polizisten war angeblich nicht aufgeladen


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Ausgabe 27/2023

„Alles an der offiziellen Geschichte ist merkwürdig“, sagt Maya Biret über die Tötung ihres guten Freundes Alhoussein Camara in Angoulême

„Alles an der offiziellen Geschichte ist merkwürdig“, sagt Maya Biret über die Tötung ihres guten Freundes Alhoussein Camara in Angoulême

„Mbappé ist tot!“ Klingeltöne überschlagen sich. SMS- und Whatsapp-Nachrichten im Minutentakt, Dutzende Anrufe und nur ein Gedanke: „Mais non. Ça peut pas être lui.“ Nein, ER kann das nicht sein. Nicht er. Nicht Mbappé … Das heißt: nicht Alhoussein Camara, wie der mit dem Spitznamen Mbappé bedachte junge Mann aus der westfranzösischen Stadt Angoulême eigentlich heißt. Wie er hieß. Es ist Mittwoch, der 14. Juni 2023, 13 Tage bevor in einem Handy-Video zu sehen sein wird, wie der 17-jährige Nahel Merzouk bei einer Polizeikontrolle im Pariser Vorort Nanterre durch das offene Fenster seines Autos von einem Polizisten erschossen wird. Zwei Wochen bevor im ganzen Land gewaltvolle Unruhen ausbrechen, bei de

denen Autos, Rathäuser und Schulen in Brand gesetzt, Geschäfte geplündert werden. Kurz bevor Tausende Menschen zu einem Trauermarsch zusammenkommen, bei dem Tränengas zum Einsatz kommt und ein Präsident schließlich einen Staatsbesuch absagen muss, um Krisensitzungen abzuhalten.Es ist Mittwoch, der 14. Juni 2023, Nahel lebt noch, und in Angoulême erreicht die 20-jährige Maya Biret während einer kurzen Mittagspause an der Supermarktkasse des örtlichen Leclerc die Nachricht: Nordöstlich von Angoulême sei ein 19-jähriger Mann aus Guinea um 4.30 Uhr nach einer Verfolgungsjagd von einem Polizisten erschossen worden, nachdem er sich dessen Anweisungen verweigert habe. Es handelt sich um ihren guten Freund Alhoussein.Verfolgungsjagd über Bremsschwellen?„Alles an der offiziellen Geschichte ist merkwürdig“, sagt Maya. Alhoussein habe erst im April den Führerschein gemacht, seinen gebrauchten Peugeot 307 erst vor einem Monat gekauft. Auf der Strecke zwischen dem Bahnhof und dem Tatort, wo die vermeintliche Verfolgungsjagd laut Staatsanwaltschaft „in langsamen Tempo“ stattgefunden haben soll, liegen ein Dutzend Bremsschwellen und Kreisverkehre. Aber erst unter einer Autobahnbrücke stadtauswärts – und ohne Videoüberwachung – soll Alhoussein kontrolliert worden sein und dabei einen Beamten am Bein verletzt haben. Jenen Polizisten, der daraufhin den tödlichen Schuss abgab.Die mobile Kamera, die der Beamte an der Uniform trug, war nicht aufgeladen. Nur sie hätte Aufschluss über den wirklichen Tathergang gegeben. In einem Kommuniqué spricht die Polizeigewerkschaft Alliance Française noch am gleichen Tag von einem „Einsatz gegen einen entschlossenen Straftäter, der nicht davor zurückschreckte, einen Polizisten zu überfahren und zu töten“. Alhoussein war jedoch bislang weder der Polizei noch der Justiz bekannt, hatte einen gültigen Führerschein, Fahrzeug- und Versicherungspapiere.„Es wird nur hingeschaut, wenn es in Paris brennt”„Ich war mir sicher, dass man ihn verwechselt hat, hab ihn immer wieder angerufen und gebeten, mit dem Scheiß aufzuhören und sich zu melden.“ Maya Biret sitzt in ihrer karg eingerichteten Wohnung auf einem grauen Sofa und schaut ihren verstorbenen besten Freund an, der aus einem silbernen Bilderrahmen und einer etwas zu groß geratenen stonedwashed Jeansjacke in die Kamera lächelt. Gestern wäre Alhoussein Camara 20 Jahre alt geworden, eigentlich war ein Abend im Bowlingcenter geplant. Das Foto, das Maya anschließend auf ihrem Handy zeigt, lässt sich schwer mit dem jugendlichen Porträt in ihrem Wohnzimmer zusammenbringen. Es zeigt ein eingefallenes Gesicht mit schwarzen Flecken, aufgequollene Lippen, eine verzerrte Schulter. „Ich musste seinen Körper noch ein letztes Mal sehen, um zu realisieren, dass er wirklich tot ist. Ich habe ihn in der Pathologie nur anhand der Narbe an seiner Stirn erkannt. Sein Gesicht sah angespannt aus. Ich glaube, er hat gelitten.“ Maya Biret verbringt die letzten Tage wie in Trance, zwischen Nachrichten an den Anwalt der Familie, Tränen, dem Trösten ihres kleinen Sohns und dem Löschen Hunderter Hasskommentare auf Tiktok, wo sie seit Alhousseins Tod versucht, seine Version der Geschichte zu erzählen.Es ist nur eine Geschichte von vielen. Eine Geschichte, die bis vor wenigen Wochen nicht mehr als ein paar Lokaljournalisten interessiert hat. „Es wird nur hingeschaut, wenn rund um Paris was passiert. Und wenn es dort in den Banlieues brennt“, sagt Maya. Der Polizist sei trotz einer Anklageerhebung frei, bei seinen Kindern, seiner Familie, habe nur seine Waffe abgeben müssen und sei vom Dienst freigestellt. Auch von ihm hat sie ein Foto, in Uniform. Sie kennt seinen Namen, postet sein Foto, einige ihrer Storys werden gelöscht. Sie postet wieder und wieder. Alhoussein habe sogar einmal mit dem Sohn des Polizisten Fußball gespielt. Fußball, darin war Alhoussein spitze, daher auch Mbappé: wie der französische Nationalspieler.Immer wieder versuchen seine Freunde am Tag nach dem tödlichen Schuss, vom Commissariat Informationen zu bekommen. Zwei von ihnen stecken eine Mülltonne in der Nähe an und verbringen die Nacht in der Zelle. „Man hat ihnen gesagt: Geht zurück in eurer Land oder krepiert. Es ist Wahnsinn, was dort passiert“, erzählt Maya. Auch den Polizisten kenne man gut. „Den kennen hier alle, der ist berüchtigt. Das ist ein übler Rassist, wie viele bei der Polizei in Angoulême. Der sagt, die ganze Kriminalität hier kommt von den Ausländern und wir sind nur ein Scheißhaufen.“Für Alhoussein wurden 8.621 Euro gesammelt – für den Polizisten 1,5 MillionenAuf der Terrasse der Bar Le Val Joly, gegenüber dem Wohnheim, in dem Alhoussein lebte, sitzen Mohamed Soumah und Syllah Salifou vor einer Büchse Cola und schauen sich die letzten seiner Tiktok-Clips an. „Ich kannte Mbappé durch den Fußball. Er war eher schüchtern, zurückhaltend, fleißig, hielt sich an alle Regeln, war nie provokant oder aggressiv.“ Wie viele hier kam auch Alhoussein noch minderjährig nach Frankreich, machte den Abschluss an einer Kochschule, jobbte schnell, um Geld in die Heimat zu schicken.In Conakry, der Hauptstadt Guineas, das bis 1958 französische Kolonie war, ist es zehn Uhr morgens. Als Ibrahim Camara auf dem Bildschirm erscheint, krähen im Hintergrund ein paar Hähne. Dort wurde sein Bruder Alhoussein vor vier Tagen nach den traditionellen Riten des Islam beerdigt. „Ich kann es noch immer nicht glauben. Man tötet jemanden nicht auf diese Art. Das ist nicht normal. Wie kann so was in Frankreich passieren?“500 Euro, so viel konnte ihr Freund monatlich der Familie schicken. Maya will versuchen, ein bisschen mit ihrem Gehalt auszugleichen. Eine Solidaritätskollekte für Alhoussein hat bislang 8.621 Euro zusammengebracht. Für den Polizisten, der Nahel getötet hat, sind anderthalb Millionen Euro gespendet worden.Was sich Alhousseins Familie wünschtMaya Biret wünscht sich aber, dass Alhousseins Name nicht mit Gewalt in Verbindung gebracht wird. „Als nach Nahels Tod auch in unseren Vorstädten Autos brannten, hab ich das gleich in alle Gruppen geschrieben: Macht das nicht in Alhousseins Namen. Fordert Gerechtigkeit für ihn, aber zerstört nichts, so wünscht es sich seine Familie.“„Justice pour Alhoussein“ ist ein spontan ins Leben gerufener Verein, der sich nun regelmäßig im Jugendzentrum trifft, sich neue Aktionen überlegt oder einfach nur ein Ort des Austauschs sein will. Alexandre, Bob und Jasmine waren beim ersten Treffen des Komitees dabei. Sie sind Mittzwanziger und im Künstlermilieu unterwegs, denn Angoulême ist Frankreichs Hauptstadt der Comic-Szene. Nebenbei engagieren sie sich politisch: für die Rechte von Migrant*innen, gegen die Politik der Regierung und, natürlich, generell gegen den Kapitalismus. Ihre Nouveau Parti Anticapitaliste, NPA, hat hier rund 30 Anhänger. „Wir sind zugegebenermaßen eine sehr weiße Partei. Aber wir sind trotzdem in Kontakt mit vielen Zugewanderten, die Milieus leben im Alltag nicht zusammen, aber wir unterstützen sie“, erzählt Jasmine hinter ihrer runden John-Lennon-Sonnenbrille. „Sie sind schon etwas misstrauisch, sie haben Angst, dass wir Alhousseins Geschichte instrumentalisieren. Aber sie brauchen eine politische Stimme.“Ein Merci von MbappéDie jungen Linken waren es, die sich um die Organisierung eines Trauermarschs in Angoulême gekümmert haben, bei dem rund 800 Menschen an der Seite von Alhousseins Freundinnen in der Altstadt zusammenkamen. Darunter war auch der Botschafter Guineas in Frankreich, Sin­koun Sylla. „Vertrauen wir der Justiz, bitte. Demonstrieren wir in Frieden, ruhig, diszipliniert“, bat Sylla. Bislang hat die Familie, haben die drei Brüder von Alhoussein vom französischen Staat keine Erklärung, keine Kondolenz, keine Informationen bekommen. Dem Pariser Anwalt Arié Alimi, spezialisiert auf Fälle von Polizeigewalt, wurde der Einblick in die Akte bislang verweigert. Auf Presseanfragen reagiert auch die Polizeigewerkschaft Alliance Française nur mit Schweigen.Auf den Trauermarsch folgt nun eine lang geplante Demo gegen Polizeigewalt am kommenden Wochenende, dafür haben sich die jungen Aktivistinnen mit „Justice pour Alhoussein“ zusammengeschlossen. Erfahrungen mit Polizeigewalt haben auch sie gemacht, zuletzt in Sainte-Soline, bei regelrechten Schlachten zwischen Polizei und Klima-Aktivisten. „Viele in der Linken werfen den Leuten aus den Banlieues vor, sich nicht an den klassischen Demos zu beteiligen, aber man muss auch verstehen, wie sehr sich diese Menschen bei Polizeipräsenz in Gefahr begeben. Das ist nicht das Gleiche für uns.“ Man könne von den Menschen aus den Banlieues nicht erwarten, dass sie auf die gleiche Art ihren Protest zum Ausdruck bringen. „Wir können aber viel von ihnen lernen.“Es gibt zwei FrankreichsDer Blumenstrauß, den Maya Biret vor der Steinmauer abgelegt hatte, an der Alhoussein gestorben ist, ist inzwischen welk. An ihm eilt Victor vorbei, will eigentlich zu seinem kleinen Auto, die Schlüssel schon in der Hand, bleibt dann stehen, will erzählen. Victor wohnt hier im Viertel. „Es gibt da zwei Frankreichs, die sich nicht verstehen, obwohl sie beide Hand in Hand gehen müssten“, erklärt er. Auch Victor war beim Trauermarsch. „Wir haben dieselben Themen. Ich bin aus dem Arbeitermilieu, bin aber weiß, werde nie von der Polizei kontrolliert, nie verdächtigt. Aber wenn es keine Beweise gibt für das Verhalten der Polizei, wie im Fall von Nahel, glaubt man immer der Polizei. Die können tun und lassen, was sie wollen.“Hinter ihm fährt ein junger schwarzer Mann vorbei und winkt aus dem Autofenster, als er die beiden Menschen vor dem Blumenstrauß stehen sieht, mit Kamera. „Merci!“, ruft er, dann rauscht er weiter. Es ist ein Danke fürs Nicht-Vergessen. Ein Merci von Mbappé.Placeholder authorbio-1



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Von Veritatis

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