Interview Reisen, Konsum, Dieselautos – für den heutigen Liberalismus sind solche Werte der Ausdruck größter Freiheit. Eva von Redecker setzt diesem Denken ihr Konzept der „Bleibefreiheit“ entgegen. Jakob Augstein hat sie erklärt, was das heißt
Die Philosophin Eva von Redecker im Gespräch: „Auf einem Großteil der Böden wächst hierzulande nichts mehr in 20 Jahren“
Foto: Philipp Plum für der Freitag
Die Sommerferien sind vielerorts in vollem Gang. Und weil die Deutschen gern wegfahren, ist viel los auf Autobahnen, Flughäfen und Bahnhöfen. Reisefreiheit – das ist ein hohes Gut. Doch wie lässt sich diese in Zeiten des Klimawandels bewahren? Und welchen Wert hat der Liberalismus noch, wenn viele immer dann nach ihm rufen, sobald er schädliche Auswirkungen hat? Eva von Redecker gibt in Bleibefreiheit Antworten. Jakob Augstein hat mit der Philosophin über ihr neuestes Buch gesprochen.
Jakob Augstein: Frau von Redecker, wie konnte es passieren, dass Freiheit zu einem Kampfbegriff der Rechten geworden ist?
Eva von Redecker: Das ist wirklich spektakulär. Ich sehe in letzter Zeit mitunter auf Autos von Nazis die Aufschrift „Mein Leben, meine Regeln“
Eva von Redecker: Das ist wirklich spektakulär. Ich sehe in letzter Zeit mitunter auf Autos von Nazis die Aufschrift „Mein Leben, meine Regeln“. Das hätte 68 locker ein linker Spruch sein können. Diese Art von anarchistischer Freiheit hat die Seiten gewechselt. Ich glaube aber nicht, dass die Rechten gesagt haben: Ehm, jetzt machen wir mal etwas mit Freiheit und deuten das Konzept für den Faschismus um. Es liegt eher an einem Problem, das bereits im Kern des gängigen Freiheitsverständnisses angelegt ist.Welches Problem ist das?Der Liberalismus versteht Freiheit analog zum Eigentum: eine Willkürsphäre, die endet, wo die der anderen beginnt. Frühe Theorien verwendeten Metaphern wie Zaun und Hecke, um die Grenzen der eigenen Handlungsräume abzustecken. In dieser Idee ist etwas enthalten, das sich die Rechten gar nicht erst aneignen mussten, weil es schon einen brutalen, herrschaftsförmigen Kern hat. Denn machen zu können, was ich will, über etwas zu verfügen, als sei es mein Eigentum, das heißt in der Moderne: Ich darf es auch zerstören oder missbrauchen. Das sieht man im Moment, wenn Leute ihre Freiheit erst dann spüren, wenn sie schädlich eingesetzt wird. Der Ruf nach Meinungsfreiheit findet erst dann Erfüllung, wenn Worte verletzen. Oder körperliche Selbstbestimmung hört nicht da auf, wo sie andere in Gefahr bringt, sondern fängt da erst wirklich an, sich nach Freiheit anzufühlen. Das gibt dem Versprechen der Faschisten gerade ordentlich Auftrieb.Man könnte auch sagen: Früher waren nur männliche, weiße Eigentümer frei, dann wurde das Ideal auf immer mehr Menschen ausgedehnt. Erst auf Frauen, dann auf Sklaven. Das ist doch eine Erfolgsstory?Jetzt beten Sie die Geschichte nach, die der Liberalismus gerne von sich erzählt. Die funktioniert aber nur, wenn man glaubt, die Unfreiheit hätte nur in Exklusion bestanden. Aber die Unfreien waren Teil der Ordnung: Sie boten mit ihrer Arbeit und ihrem Leben den „Freien“ überhaupt erst die Sphären, in denen sie sich auch wirklich als Eigentümer erfahren konnten. Ich halte die Freiheit des Selbsteigentums nicht für verallgemeinerbar.Wieso?Weil es dann neue, ausgelagerte Kompensationssphären braucht. Ich nenne das Phantombesitz: Wenn ich Freiheit als Eigentum definiere und am Ende aber nur mich selbst besitze, gibt es ein permanentes Gefühl des Mangels. Manche füllen das durch rassistisches und sexistisches Anspruchsdenken, fast alle durch Konsum. In der Geschichte wurde der Liberalismus immer damit schmackhaft gemacht, dass der Wohlstand der Menschen anwächst und sie Herrschaft über materielle Dinge ausüben können. Dann verschiebt sich aber die eigene Freiheit ins Naturverhältnis, und die Umwelt muss für mich ausgeplündert werden. Am Ende steht dann das F in FDP dafür, möglichst viel Diesel verfeuern zu dürfen.Sie schreiben in Ihrem Buch, Freiheit werde vor allem als Bewegungsfreiheit verstanden. Sind andere Ideen nicht bedeutender für den Liberalismus?Ja, ich habe mir das am Anfang auch nicht richtig geglaubt (lacht). Aber wenn Sie sich die zeitgenössische Rekonstruktion des Liberalismus bei Christoph Möllers ansehen, dann bietet er mit dem Begriff der Freiheitsgrade wiederum eine räumliche Metapher, die den mechanischen Spielraum eines Zeigers beschreibt.Sie setzen der Bewegungsfreiheit das Ideal der „Bleibefreiheit“ entgegen. Was ist das?Vielleicht eine Provokation …Weil Deutsche aus Erfahrung die Reisefreiheit hochhalten.Dem will ich auch gar nicht widersprechen. Ich definiere den Begriff so: Es ist die Freiheit, bleiben und frei bleiben zu können. Das ist man aber nur, wenn man theoretisch auch wegkönnte.Aber hat Bleiben nicht immer etwas Verharrendes? Sind Sie in Wirklichkeit eine Konservative?Mag sein. Aber der wichtigste Punkt ist für mich nicht das Bleiben, sondern die Umstellung von einem räumlichen auf ein zeitliches Freiheitsverständnis. Anstatt in einem bestimmten Kreis schalten und walten zu können, würde ich Freiheit mit dem ganzen Leben in seinem zeitlichen Verlauf zusammenbringen. Freisein heißt, erfüllte Zeit zu genießen. Ich denke dabei an Hannah Arendt, die gesagt hat, dass wir Menschen stets als Neue auf die Welt kommen und deshalb auch selbst immer wieder Anfänge stiften können.Das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts vor zwei Jahren hat eine zeitliche Dimension: Wir dürfen so viel emittieren, dass künftigen Generationen ein bewohnbarer Planet bleibt. Halten Sie das für fortschrittlich?So halb.Wieso nur halb?Weil das Urteil den Freiheitsbegriff nicht verzeitlicht. Gut, das ist auch nicht Aufgabe des Gerichts. Aber die Freiheit, um die es da geht, besteht im Brennstoffbesitz: Die Einschnitte sollen gerecht über die Generationen verteilt werden. Dabei kommt weiterhin nicht in den Blick, welche Freiheit es eigentlich bedeutet, in einer intakten Ökologie zu leben, welchen Freiheitsverlust, gegen permanente Naturkatastrophen ankämpfen zu müssen.Müssen wir beim Klima mehr auf die Gegenwart gucken?Ja, unbedingt. Ich würde Ökologie lieber durch die Brille der Biodiversität betrachten, anstatt nur auf die Gradzahl der Erderwärmung zu starren. Wir leben im Moment immer noch auf dem biodiversesten Planeten, den es je gab. Es geht darum, durch unser Handeln im Hier und Jetzt möglichst viel von diesem reichen, prächtigen, verwobenen Leben zu bewahren. Damit wir auf der Erde bleiben können und nicht den Mars besiedeln müssen, wie es die wahnwitzigen Silicon-Valley-Projekte vorbereiten.Schlagen Sie vor, die Zukunft einfach mal außen vor zu lassen?Nein. Das hieße ja, sich dumm zu stellen. Wir müssen auf die Gegenwart gucken, aber zeitbewusst. Das heißt: im Wissen um die ökologischen Regenerationsspannen, von denen jede Zukunft abhängt. Einen Planeten, auf dem alle Küstenstädte untergegangen sind und Giftstoffe ins Grundwasser eingespeist wurden, kann niemand wollen.Placeholder infobox-2Für viele ist unser kapitalistisches System eine Verheißung: In Indien und China sind Elektrifizierungskampagnen wichtiger als die Klimaerwärmung. Können Sie das nicht verstehen?Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist die Gegenüberstellung, aber die kommt ja jetzt vielleicht auch von Ihnen. Für Elektrifizierung – im Sinne von Strom im Haushalt, nicht im Sinne von zwei Teslas in der Garage – gibt es grüne Lösungen. Und Elektrifizierung bietet ohnehin nicht nur der Kapitalismus. Sie kennen sicher das Diktum von Lenin, dass Sozialismus „Elektrifizierung und Räte“ bedeute.Wieso verwandeln wir den Planeten nicht in einen großen Garten, einfach weil es schön ist, ohne uns um die Zukunft zu kümmern?Ehm, weil Menschen sich nicht durch Fotosynthese ernähren können, sondern all ihre Nahrungsketten von Pflanzen abhängig sind!? Im Moment ist der Großteil von Deutschland eine agrarindustrielle Mondlandschaft. Da wächst in 20 Jahren nichts mehr, weil die Böden erodiert sind. Aber wer weiß, vielleicht reicht es ja noch für einen Zen-Garten? Da können Sie dann mit einer Harke fröhlich im Wüstensand herumkratzen (lacht).Sie nehmen das nicht ernst.Haben Sie es denn ernst gemeint? Also mir gefällt das Szenario von einem ökologischen Nutzgarten für die ganze Welt. Es gibt ja auch andere Vorschläge dieser Art: George Monbiot etwa plädiert dafür, so viel wie möglich zu renaturieren und dann auf dem Rest des Planeten platzsparend intensive Landwirtschaft zu betreiben. So oder so müssen wir auf unsere Kalorien kommen.In Ihrem Buch spielen Schwalben eine wichtige Rolle. Wieso?Weil diese Tiere doch ein Wunder sind! Das sind winzige Geschöpfe, 20 Gramm schwer, die 10.000 Kilometer fliegen, in der Luft schlafen können und dabei eine Gehirnhälfte abschalten. Ich habe die Zugvögel aber auch deswegen im Buch, um mich nicht zu leichtfertig von der Bewegungsfreiheit abzuwenden, für die sie stehen.Sind Sie religiös?Ich sage immer, dass ich eine ungläubige Christin bin: Ich glaube an nichts, bin aber christlich erzogen und geprägt. Wenn mein Gehirn einfriert und nichts mehr geht, erinnere ich mich zumindest noch an das Vaterunser. Ich halte das nicht unbedingt für hinderlich beim Philosophieren: Wenn man zu säkular ist, springt man vielleicht zu leichtfertig in weniger vertraute spirituelle Systeme. Aber die eigentliche philosophische Arbeit besteht meiner Meinung nach darin, weltliche Wahrheiten zu finden.Könnte es nicht sein, dass ein wohlverstandener Schöpfungsbegriff auch mit einer Verantwortung für die Umwelt einhergeht? Und ich rede jetzt nicht von den Evangelikalen im Bible Belt …Ja, Gott sei Dank ist das so! Es gibt zum Beispiel das Buch Revolutionäres Christentum von Jürgen Manemann. Da wird genau das gemacht: Es werden Motive der Revolution aufgegriffen, um Christinnen und Christen zu wappnen für die Klimakrise. Und gerade in der ehemaligen DDR waren Umweltbewegung und evangelische Kirche politisch verbunden. Es gibt in der Religion, wie bei fast allen kulturellen Praktiken, Deutungskämpfe. Und die kippen leider oft auch in Richtung Phantombesitz. Denken Sie bloß an die Debatte um das Kreuz auf dem Berliner Schloss! Da wird laut Religionsfreiheit geschrien, aber gemeint ist etwas anderes: plumpe Besitzstandswahrung, eine Vergangenheitsattrappe, die Menschen mit anderem Glauben brüskieren soll. Mit lebendiger Tradition hat das nichts zu tun.Und das, während viele Menschen aus anderen Ländern nach Europa fliehen müssen, weil bei ihnen die Welt untergeht.Genau. Ob das jemand überlebt, hängt nicht nur davon ab, ob er sein Land verlassen kann, sondern auch davon, ob ihm Ankunft gewährt wird. Im Unterdeck der kürzlich mit 650 Toten im Mittelmeer versunkenen Adriana waren Pakistaner, deren Land im letzten Sommer zu einem Drittel überschwemmt wurde. Es ist nicht die Natur, die diese Tode fordert, sondern die Art, wie wir uns eingerichtet haben.Sie leben in einer Landkommune in Brandenburg.Ja, totaler Luxus. Und inklusive Schwalben!