Seit Jahren schon fordern nicht nur rechtsextreme, sondern auch viele rechte Politiker in Europa, dass afrikanische Auswanderer Anträge auf Asyl und Arbeitserlaubnis nur in den Staaten Nordafrikas stellen dürfen. Als Orte, an denen das geschehen könne, kämen Auffanglager in Betracht. Dem war seinerzeit nur Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi nachgekommen. Diese nicht nur von Menschenrechtsorganisationen zu Recht kritisierten Camps wurden – ähnlich wie etwa Flüchtlingslager in Somalia oder im Libanon – zu Orten, wo Menschen jahrzehnte-, letzten Endes lebenslang ausharren mussten. Nie wurden nennenswerte Zahlen von Migranten bekannt, die mit einer Arbeitserlaubnis oder als anerkannte politische Flüchtlinge aus Gaddafis Lagern nach Europa kamen. Unter der vom Westen als „international anerkannt“ etikettierten Regierung in Tripolis existieren diese Lager bis heute weiter, ergänzt durch eine von der EU finanzierte Partnerschaft, die sich gegen Schlepperkriminalität richtet, sowie auf das Rückführen von Flüchtlingsbooten zielt. Das Sterben auf dem Mittelmeer wurde dadurch nicht beendet.
Unaufhörlich verstärkt sich für die Regierungen Europas der Widerspruch zwischen einerseits fehlenden Fachkräften, die man selber nicht auszubilden versteht, und dem Immigrationswunsch zahlreicher kaum ausgebildeter Menschen. Sie entfliehen in ihrer Heimat ökonomischer Not, für deren strukturelle Ursachen Europa maßgeblich verantwortlich ist. Dieser Widerspruch wird bisher kaum erschöpfend begriffen. Auch nicht von Linken, die zumeist unmittelbare Menschenrechtsverletzungen skandalisieren, um damit afrikanische und europäische Regierungen zu konfrontieren.
Doch profitieren auch das EU-Proletariat und die Mittelschichten von der weitgehenden Externalisierung hiesiger Wohlstandserzeugung. Diese Masche stößt mittlerweile an ihre Grenzen. Liberale wie konservative EU-Regierungen müssen ernsthaft fürchten, Einfluss und Geltungsmacht an ultrarechte Parteien zu verlieren. Daher wird den Mittelmeeranrainern in Nordafrika immer nachdrücklicher Beihilfe zum Ausbau von Flüchtlingslagern und Küstenschutz angeboten. Sowohl die Europäische Union als auch Großbritannien machen für Migranten die Schotten dicht. In den Transitstaaten folgt daraus ein erheblicher Menschenstau. Zugleich entstehen Flüchtlingslager auch ohne staatliches Zutun.
Präsident Kais Saied bedient sich an Diskursen europäischer Rechtsradikaler
Gegen saharische und subsaharische Migranten, denen kein Transit nach Europa winkt, kam es im bislang nicht durch Fremdenhass aufgefallenen Tunesien Anfang des Jahres zu rassistischen Ausschreitungen und – in Abstimmung mit den Herkunftsländern – Tausenden von Abschiebungen. Präsident Kais Saied, der ein von wirtschaftlichem Niedergang gezeichnetes Land führt, äußerte sich in einer Weise, die an Diskurse europäischer Rechtsradikaler erinnerte. Er sprach von einem „Komplott“, der die „demografische Zusammensetzung“ Tunesiens verändern solle. Saied hatte damit allerdings nicht die Migranten selbst im Blick, sondern grenzüberschreitend agierende Schleppernetze.
Die EU nahm diesen vom Standpunkt der Menschenrechte und Freizügigkeit fragwürdigen Wink gern auf. Um gemeinsame Maßnahmen in die Wege zu leiten, trat nicht nur Italiens als fremdenfeindlich geltende Regierungschefin Giorgia Meloni mit Saied in Verhandlungen. Auch der niederländische Premier, der französische Innenminister, die deutsche Innenministerin und die Präsidentin der EU-Kommission machten in Tunis ihre Aufwartung. Am 17. Juli wurde dort ein Memorandum verabschiedet, das umfassende Kooperation auf wirtschaftlichem Gebiet verspricht, aber keine Bestätigung durch legislative Körperschaften erhalten soll. Zugesichert wurde lediglich, dass Tunesien – über Jahre gestreckt – mit 900 Millionen Euro rechnen kann, um als Gegenleistung die bis an die Mittelmeerküste führenden Netzwerke der Schlepper zu bekämpfen.
An die eigene Bevölkerung gewandt, betonte Saied, dass die sich stetig verschärfende Flüchtlingskrise „nicht zum Schaden Tunesiens“ gelöst werden dürfe. Das Land lasse sich auf keinen Fall „zum Gendarmen Dritter“ machen, das heißt, der eigentlichen Zielländer der Migranten. Er verlangte, „eine humane und kollektive Lösung“ zu suchen, was bedeute, endlich umfassende Schritte zu gehen, um Fluchtursachen zu vermindern und eine Abkehr von der gegenwärtigen ungerechten Weltwirtschaftsordnung zu vollziehen. Das setze „eine globale Anstrengung voraus wie eine multilaterale Kooperation, die sich auf Werte wie gute Nachbarschaft und die Anerkennung der permanenten Souveränität von Staaten“ berufe. Ob die von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni vorgeschlagene europäische Hilfe zur Berufsausbildung von Afrikanern in den von Auswanderung besonders betroffenen Ländern zustande kommt, um jungen Menschen eine Zukunft im eigenen Land zu sichern, muss dahingestellt bleiben. Dies kann auch zum weiteren Abwandern von Fachkräften führen, die eigentlich vor Ort dringend gebraucht werden, für deren Anstellung aber die nötigen Unternehmen fehlen.
Saied ließ wissen, dass offiziell in Tunesien weilende Studenten und politisch anerkannte Flüchtlinge weiter den vollen Schutz seines Staates genießen, hier aber ebenso die Zivilgesellschaft gefordert sei. Am Wochenende nahm er an einer internationalen Konferenz zu Migration und Entwicklung in Rom teil. Dabei wurde deutlich: Kais Saied verfügt über den Rückhalt der supranationalen Afrikanischen Union (AU), die ihn ausdrücklich bei der Rückführung von Migranten in ihre Heimatländer unterstützt. Zumindest ein Teil hat dabei sogar kooperiert, was man in Videoaufnahmen sehen konnte. Abschiebungen müssen nicht zwingend „im Wüstensand“ hinter der Grenze enden, was etliche Menschenrechtsverbände in Europa befürchten. Um die künftig zu erwartenden Rückführungen sicherer zu machen, ist ihnen dringend ein Zusammenspiel mit vergleichbaren Organisationen im subsaharischen Afrika zu empfehlen.